■ Zur Diskussion über den „großen Lauschangriff“: TED-Umfrage über ein Grundrecht
Das monatelange Trommelfeuer zeigt Wirkung. Immer mehr Politiker sind offenbar überzeugt, daß es ohne den „großen Lauschangriff“ nicht mehr weitergeht. Kaum eine Woche, in der nicht in den Medien aufrüttelnd über die Zunahme des organisierten Verbrechens, die mangelhafte Ausrüstung der Polizei, ergo das dringende Bedürfnis nach dem „großen Lauschangriff“ berichtet und die These verbreitet wird, organisierte Verbrecher aus aller Welt kämen nach Deutschland, um die paradiesischen Zustände hierzulande zu genießen.
Die Argumentation der Befürworter ist in den vergangenen Monaten schrittweise verfeinert worden. Wurde zunächst eine ständige Zunahme des organisierten Verbrechens mangels seriöser Zahlen nur aus der allgemeinen Kriminalitätsentwicklung abgeleitet, so mußten später Vorgänge in Italien herhalten. Nachdem die „pista tedesca“ im Sande verlief, machten sich Politiker und andere Unentschlossene auf den Weg über den großen Teich, um vor Ort, bei den Experten des FBI, der Sache auf den Grund zu gehen und sich aus erster Hand erklären zu lassen, was der „große Lauschangriff“ bewirken könne.
Kaum einer, der nicht die gefestigte Erkenntnis mitbrachte, daß der Lauschangriff in Amerika tatsächlich „etwas“ gebracht habe. Da man natürlich mit dem Einwand rechnen mußte, daß die amerikanischen Verhältnisse so ohne weiteres nicht auf Deutschland übertragbar seien, kam ein weiteres Argumentationsmuster hinzu. Es wurden deutsche Akten und Fälle ausgewertet und die Frage untersucht, ob der „große Lauschangriff“ in diesen Fällen „etwas“ gebracht hätte, hätte man ihn anwenden dürfen. Und tatsächlich stellte sich heraus, daß er in einer Reihe von Fällen wirklich „etwas“ gebracht hätte. Damit schien die Beweiskette geschlossen.
Was „etwas“ ist, wird nicht deutlich gesagt. Es kann jedoch niemand wirklich sagen, wie sich ein Kriminalfall in den USA entwickelt hätte, wenn man den „großen Lauschangriff“ nicht hätte anwenden dürfen. Genausowenig läßt sich rekonstruieren, wie Fälle bei uns verlaufen wären, wenn die Polizei die Wohnung der Verdächtigten hätte abhören dürfen.
Käme es im übrigen wirklich nur darauf an zu belegen, daß der „große Lauschangriff“ in einigen Fällen „etwas“ gebracht hätte, so würde der Weg bereitet für ein geradezu gefährliches Argumentationsmuster. Dann untersuchten wir, d.h. diejenigen, die Zugriff auf die Polizeiakten haben, demnächst, ob nicht der Wegfall des Richtervorbehalts bei Telefonabhörmaßnahmen in dem einen oder anderen Fall „etwas“ gebracht hätte. In wie vielen Fällen hätte es wohl „etwas“ gebracht, wenn die Polizei zu jeder Zeit, ohne lästigen Formalkram und Richtervorbehalt, Häuser und Wohnungen durchsuchen dürfte. Und so weiter und so weiter. Die ultimative Untersuchung müßte dann nur noch der Frage nachgehen, ob es nicht ganz schön „etwas“ brächte, wenn man die ganze Strafprozeßordnung abschaffen würde.
Seit Wochen verzeichnen die Befürworter des „großen Lauschangriffs“ Zulauf, vor allem aus der SPD. Es ist ohnehin erstaunlich, wie geschlossen offenbar das konservative Lager den „großen Lauschangriff“ befürwortet, so als wären Privatwohnung, Privatsphäre und ungestörtes Familienleben keine urkonservativen Werte, ihre Preisgabe nicht ein erschreckender Werteverfall. Wo nun so eindeutig mit Polizeiakten belegt werden kann, daß der „große Lauschangriff“ notwendig ist, müssen scheinbar die Skeptiker verstummen – schon weil ihnen Polizeiakten für ihre Argumentation gar nicht zur Verfügung stehen.
Ist der polizeiliche Bedarf nach dem „großen Lauschangriff“ wirklich so dringend, wird sich nach seiner Einführung in der Kriminalitätsentwicklung tatsächlich nachhaltig etwas ändern? Nicht weil man es im nachhinein naturgemäß besser weiß, sondern weil einem die Argumentation irgendwie bekannt vorkommt, sei daran erinnert, daß der damalige Präsident des Bundeskriminalamtes, Horst Herold, im Jahre 1973 die Einführung der automatisierten Sachfahndungsdatei als den entscheidenden tödlichen Schlag gegen den organisierten Kfz-Diebstahl feierte. Inzwischen ist die Sachfahndungsdatei sogar auf eine internationale Basis gestellt worden. Aber auch zwanzig Jahre nach ihrer Einführung nehmen die Kfz- Diebstähle laufend zu. Sie gelten manchem sogar als Beweis für die anwachsende Organisierte Kriminalität und liefern damit erneut die Begründung für Forderungen nach einer Verschärfung des Instrumentariums.
Als die Polizei Mitte der achtziger Jahre das PIOS-Verfahren vom Terrorismusbereich auf den Bereich der Organisierten Kriminalität übertrug, sah man darin ein entscheidendes Instrument gegen das organisierte Verbrechen. Wo sind die konkreten Ergebnisse? Wer mißt die mit diesen hochsensiblen Datenbeständen erzielten Erfolge an den bei ihrer Einführung geäußerten Erwartungen?
In ein paar Jahren wird man feststellen, daß es natürlich auch nach Einführung des „großen Lauschangriffs“ noch wachsendes organisiertes Verbrechen gibt. Was werden dann die nächsten Forderungen sein, die „unbedingt“ erfüllt sein müssen, damit „endlich wirksam“ gegen das organisierte Verbrechen vorgegangen werden kann? Niemand wird Buch führen über die ständigen Verschärfungen des Instrumentariums, niemand die versprochenen Erfolge tatsächlich einfordern. Es wird statt dessen stets der Eindruck erweckt werden, als fange man beim Nullpunkt an und müsse nun „endlich“ auch die Polizei adäquat aufrüsten.
Will man das organisierte Verbrechen an seiner empfindlichsten Stelle treffen, so muß man ihm seine Gewinne wegnehmen. Die Verhinderung der Geldwäsche und die Abschöpfung von Verbrechensgewinnen ist die Aufgabe der Stunde. Dafür ist jedoch der Blick auf Bankkonten und Bankbewegungen notwendig und nicht die Wanze und die geheime Videokamera im Schlafzimmer.
Jüngst wird in der öffentlichen Debatte verstärkt über „Beruhigungspillen“ wie Richtervorbehalt, Transparenz der Verfahren oder nachträglich gerichtliche oder Datenschutzkontrolle gesprochen. Gewiß ist ein Richtervorbehalt besser als gar nichts. Seine Einführung auf breiter Front in das Polizeirecht macht aber gleichzeitig deutlich, wo seine Grenzen liegen. Im Grunde wird der Richter dabei nämlich gar nicht als Richter tätig, denn es fehlt das wesentliche Merkmal der Entscheidung zwischen zwei Streitparteien. „Audiatur et altera pars“ bleibt ein frommer Wunsch, da die andere Seite naturgemäß nicht vorgewarnt werden darf. Also muß der Richter ausschließlich auf der Grundlage der Polizeiakten, die ihm vorgelegt werden, entscheiden und ggf. aus diesen selbst die Gegenargumente gewinnen.
Ein schwieriges Unterfangen, das seine Grenzen hat, worauf beispielsweise der rapide Anstieg der richterlich genehmigten Telefonabhörmaßnahmen hindeutet.
Die Verbesserung der Transparenz von Abhörmaßnahmen, nicht nur in der Wohnung, sondern auch am Telefon, ist ein interessanter Vorschlag, auf den sich jetzt vor allem die SPD kapriziert. Indes, die Transparenz staatlichen Handelns hat in Deutschland – anders als beispielsweise in den USA – keine Tradition. Detaillierte Berichtspflichten über die Zahl der genehmigten Abhörmaßnahmen, den weiteren Verlauf der Fälle und insbesondere die Zahl der betroffenen Personen wären ein Fremdkörper in unserem Strafverfolgungssystem.
Die bislang mit dieser Idee gesammelten Erfahrungen waren alles andere als ermutigend. So wurde Anfang der achtziger Jahre, auch als Ausgleich für die fehlende Rechtsgrundlage, in den Richtlinien bestimmt, daß die Polizei sog. „andere Personen“ (z.B. Kontaktpersonen), also solche, die weder Beschuldigte noch Verdächtigte sind, zu unterrichten hat, wenn ihre Daten länger als ein Jahr gespeichert werden. Eine solche Unterrichtung hat es im vergangenen Jahrzehnt praktisch nie gegeben.
Entweder wurden die Daten vor Ablauf eines Jahres gelöscht, oder die Betroffenen wurden, was mangels präziser Begriffsdefinition leicht möglich ist, zu Verdächtigen „gemacht“. In einigen Kriminalitätsbereichen wurde nachträglich die Frist auf drei Jahre heraufgesetzt oder geltend gemacht, eine Unterrichtung sei generell nicht möglich. Was auch immer, jedenfalls wurde kaum je ein Bürger unterrichtet, obwohl seitdem gewiß zehntausend als „andere Personen“ gespeichert waren. Transparenz des Verfahrens als Ausgleich für schwere Grundrechtseingriffe ist ein schwacher Trost.
Alternativen in der Kriminalpolitik werden in diesem Zusammenhang kaum ernsthaft diskutiert. Wohl niemand glaubt, Stimmen mit der staatlichen Abgabe weicher Drogen an Süchtige gewinnen zu können, damit wenigstens eine wesentliche Ursache für die Beschaffungskriminalität entfällt? Das Feld beherrschen die großen Vereinfacher, die Law-and-order- Politik als beste Medizin gegen den Rechtsruck der Wähler ansehen. Da gelten die Zahlen aus den Wählerumfragen mehr als die Wahrung von Verfassungsprinzipien.
Wer aber grundlegende Verfassungsfragen an tagespolitischen Vorteilen mißt, gewissermaßen TED entscheiden läßt, der muß sich die Frage stellen, auf welchen Fundamenten langfristig die Identität dieser Gesellschaft ruhen soll, wenn je nach Bedarf alles und jedes in Frage gestellt werden kann. Helmut Bäumler
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