■ Zumutungen des Wahlkampfs und die wirklichen Probleme: Wo Europa liegt
Wo liegt Europa? Wenn man der CDU glauben darf, irgendwo in einem Wald, in dem bald die Blätter fallen. Die SPD sucht es auf einem Baugerüst und die Grünen haben immerhin entdeckt, daß Europa von Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen Aussehens bevölkert wird. Neben diesem Grundtenor gibt es aber auch noch klare programmatische Aussagen: „Deutschland zuliebe: CDU“. Oder, „Die Euro- Mafia zerschlagen: SPD“, und – „Die Mafia zerschlagen: Reps“. Selbst den Moderator eines Berliner Dudelfunks überfiel angesichts dieser Steigerungsform nur noch eine Kindheitserinnerung: Wer bei den Wasserfarben schon mal rot und braun gemischt habe, wisse was dabei herauskomme... Sch....!
Der tiefschürfendste Slogan für die Wahl am Sonntag ist denn auch: Geh hin! Parteiübergreifend formuliert, von einer Comicfigur präsentiert, wird Europa jeglichen politischen Inhalts entkleidet: „Geh wählen, du weißt zwar nicht warum, aber glaub uns, Europa ist wichtig, also geh hin.“ Diesen Wahlkampf mit Waschmittelreklame zu vergleichen, kommt einer Beleidigung der Produzenten des weißen Pulvers gleich. Die Aussage der Euro-Gegner, sie, die Befürworter der EU, wollen euch eure wohlverdiente Mark nehmen, ist da eine vergleichsweise komplexe intellektuelle Leistung. Sie wird von keiner Pro-Europa-Partei widerlegt, einfach weil keine dieser Parteien sich bemüßigt fühlt, überhaupt zu argumentieren. Stattdessen klingt es wie schlechtes Gewissen, wenn Kohl im Anschluß an sein Treffen mit dem spanischen Ministerpräsidenten González in dieser Woche verkündete, die Einführung einer einheitlichen europäischen Währung in diesem Jahrtausend sei zwar seit Maastricht verabredet, sei aber kein Dogma.
Europa-Wahlkämpfe in Deutschland – über andere erfährt man hierzulande kaum etwas, was über die europäische Öffentlichkeit ja auch einiges aussagt – waren schon immer etwas merkwürdige Veranstaltungen. Sie zeichneten sich dadurch aus, daß sie machtpolitisch nicht ernst genommen wurden. Das europäische Parlament hat bekanntlich nicht viel zu sagen und auch die, die das bei feierlichen Anlässen wortreich beklagen, sind im Ernst nicht gewillt, daran etwas zu ändern. Politische Entscheidungen innerhalb der Europäischen Union sind zum Nutzen aller beteiligten nationalen Politiker ein Verwirrspiel für den europäischen Bürger. Nach wie vor fallen die wichtigsten Entscheidungen im Ministerrat und nach wie vor tagt dieser geheim. Da kann man gut zu Hause für den Umweltschutz tönen und dann in Brüssel für die Verpackungsindustrie stimmen. Vor dem europäischen Parlament muß sich kein Minister rechtfertigen. Wem das auch nützen mag, der europäischen Idee nützt es jedenfalls nichts.
Der aktuelle Euro-Wahlkampf hat diese politische Schizophrenie, ein Parlament wählen zu sollen, das dann kaum Kompetenzen hat, erst gar nicht zum Thema gemacht – der gesamte Wahlgang ist nicht viel mehr als eine teure Meinungsumfrage für die Bundestagswahlen im Oktober. Nie war Europa so fern wie heute, dagegen ist selbst die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt zwei Wochen später ein nationales Ereignis von Rang. Selten zuvor ist in Deutschland so offen demonstriert worden, wo Europa, wenn es mit wirklichen Wahlen konkurrieren muß, für Spitzenpolitiker wie Kohl und Scharping wirklich liegt: im Rang einer Ted- Umfrage.
Dabei wissen beide großen Parteien, daß sie im Moment auf einen kurzsichtigen Populismus setzen, der sich langfristig bitter rächen wird. Wenn die SPD jetzt für Deutschland in Europa „mehr rausholen“ will, werden Vorurteile reaktiviert, gegen die dieselbe Partei jahrelang mühsam argumentiert hat. Und wer nur „für Deutschland“ nach Europa gewählt werden will, tut dies nicht als Europäer, sondern lediglich als Lobbyist im Verteilungskampf. Dabei hat es in der Geschichte der EWG, EG und EU selten eine Situation gegeben, die so dringend nach Klärung entscheidender Fragen für die weitere Entwicklung dieses Kontinents verlangt hätte. Aus der scheinbar philosophischen Frage, wo denn nun Europa liegt, ist praktische Politik geworden. Seit Maastricht und der Etablierung des Binnenmarkts ist die westeuropäische Zollunion vollendet. Nun müssen Entscheidungen fallen, oder aus der aktuellen Stagnation wird eine Regression.
Deshalb gehörte in diesen Wahlkampf die Auseinandersetzung um die Demokratisierung der EU, die Neuverteilung der Kompetenzen, die Rolle der Regionen in der Europäischen Union. Der Streit um die Vertiefung der bestehenden westeuropäischen Zusammenhänge versus eine Erweiterung der Union nach Osteuropa schwelt unter der Oberfläche. Und wenn Erweiterung, dann im Sinne einer Zollunion und einer Vergrößerung des Wirtschaftsraums oder tatsächlich als Europäische Union, die demokratisch legitimiert bisherige nationale Gesetzgebungskompetenzen übernimmt und so die Bedeutung der existierenden Nationalstaaten Schritt für Schritt reduziert. Zur Zeit liegt beides Brach. Weder ist eine sogenannte Vertiefung der Zusammenarbeit innerhalb der existierenden EU in Sicht – schließlich müßten nationale Regierungen im nächsten Schritt tatsächlich einen Teil ihrer Macht an die Brüsseler Kommission und vor allem an das Parlament abgeben – noch gibt es konkrete Zeitpläne für die Aufnahme osteuropäischer Länder und eine Vorstellung davon, welche Staaten eigentlich dazu kommen sollen. Von Gorbatschows europäischem Haus, in dem selbstverständlich auch Rußland eine Etage bewohnen sollte, ist nicht viel mehr als bedrucktes Papier übrig geblieben.
Dabei ist die europäische Idee so aktuell wie selten zuvor. Auf die Auflösungserscheinungen und Desintegrationsprozesse in Osteuropa, den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und einen neuen rassistischen Dünkel in Westeuropa ist die europäische Integration eine der wenigen überzeugenden politischen Antworten. Dasselbe gilt in immer größerem Maße für die drängenden globalen Fragen. Ein Rückfall in nationalstaatliches Denken macht jedes globale Management zur Illusion. Die Voraussetzung für die nächsten Schritte in Europa ist jedoch, daß die Kritik an Form und Inhalt des bisherigen Einigungsprozesses endlich ernst genommen wird, und die europäischen Gesellschaften Gelegenheit bekommen, sich zu äußern. Das geht nicht über ein Referendum einmal in 20 Jahren – in Deutschland gab es ja noch nicht mal das – sondern nur durch eine kontinuierliche Beteiligung der europäischen Bevölkerungen.
Bis es soweit ist, müssen wir, hoffentlich zum letzten Mal, die Zumutungen des Europa-Wahlkampfes herkömmlichen Stils über uns ergehen lassen, die Dummheit der Politik ignorieren und um der Perspektive willen tun, was uns die Werbespots nahelegen: wählen gehen. Jürgen Gottschlich
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