■ Zum Streit um die Bundestagsvize-Posten: Wer hat Angst vor Antje Vollmer?
Die Deutschen lieben das Überparteiliche, werden damit allerdings selten glücklich. Der Bundespräsident soll über dem Parteienhader stehen, aber auch der oder die BundestagspräsidentIn darf, wenn nicht über-, so wenigstens doch unparteiisch sein. Ausgestattet mit dieser publikumswirksamen Tugend soll er/sie die Verhandlungen des Bundestages leiten, das Parlament nach außen vertreten und nicht nur die Ordnung im Saal, sondern generell die Würde des Hauses wahren. In den Debatten sitzt der oder die PräsidentIn – wie der Heilige Geist – direkt über den Rednern. Das hat zur Folge, daß jedesmal, wenn die Fernsehregie bei Übertragungen auf die mittlere Distanz zurückgeht, nicht nur der Präsident, sondern das ganze Präsidium im Bild erscheint!
Ein schwacher Abglanz präsidentieller Würde fällt auch auf die StellvertreterInnen im Amt. Sie dürfen den Präsidenten bei der Leitung der Sitzungen ablösen und geraten so aus der Randlage in den Fluchtpunkt der Zentralperspektive. Von großen staatspädagogischen Unternehmungen wie Reden an Gedenktagen der deutschen Nation sind sie allerdings ausgeschlossen. Immerhin: Wer StellvertreterIn ist, gehört – schon optisch – zu den Pfeilern des Verfassungsgebäudes.
Da die Bündnisgrünen nicht so töricht sind, symbolisch aufgeladene Ämter und Funktionen geringzuschätzen, haben sie ihren Anspruch auf einen der vier Stellvertreterposten angemeldet. Nach der Geschäftsordnung des Bundestages ist bei Wahlen nur von der Mehrheit die Rede, was bei mehreren zu besetzenden Positionen die Anwendung des Höchstzahlverfahrens und damit eine ausschließliche Berücksichtigung der beiden großen Parteien nach sich ziehen würde. Um dieses Ergebnis zu vermeiden, hat in der Vergangenheit die CDU/CSU einen der Stellvertreterposten an die FDP abgetreten. Von diesem Usus will die CDU/ CSU-Fraktion auch jetzt, wo die FDP auf den vierten Platz zurückgefallen ist, nicht abrücken. Taktisch klug und gut für die Öffentlichkeit!
Von der SPD gleiches für die Fraktion der Bündnisgrünen zu erwarten war wohl eine allzu philanthropische Hoffnung. Einen Augenblick lang schien es, als wollte sich die SPD mit dem Vorschlag, die Zahl der Stellvertreter auf fünf zu erweitern, elegant aus dem Dilemma befreien, sowohl für die angemessene Präsenz der eigenen Partei streiten als auch anständigerweise den Bündnisgrünen ein Plätzchen auf der Präsidiumsempore sichern zu müssen. Aber das Dementi folgte auf dem Fuß.
Das ganze bisherige Verfahren ist zwar formal korrekt, verletzt aber den Geist der Verfassung. Ohnehin hat der Bundestag seine Kontrollfunktion gegenüber der Exekutive weitgehend eingebüßt. Die Besetzung des Parlamentspräsidiums entsprechend der Stärke der Fraktionen verfestigt noch die Hegemonie der Großparteien, die Beutementalität, die mit der Herrschaft des Parteienstaates einhergeht. Newcomer haben es ohnehin schwer genug, den Klimmzug auf die (Parlaments-)Tribüne zu schaffen. Das demokratische Regierungssystem bedarf des Minderheitenschutzes, wie sollen sonst neue Ideen in den hermetischen Raum eindringen? Schon aus Gründen der Selbsterhaltung müßten die „Altparteien“ für Antje Vollmer als Vizepräsidentin stimmen. Christian Semler
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