■ Zum Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften: Das Stärkste der Schwachen
Was geht da vor? Rund 1,5 Millionen Menschen haben den Gewerkschaften in den letzten zwei Jahren den Rücken gekehrt. Eine Massenflucht ausgerechnet während der schlimmsten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit. Was geben die Menschen da eigentlich auf? Historisch gesehen läßt sich die Frage einfach beantworten: Mit dem Aufbau der Gewerkschaften bildeten sich die ausgebeuteten und unterdrückten Lohnabhängigen im entwickelnden Kapitalismus einen Hort der Gegenwehr. Die Gewerkschaft war das Stärkste, was die Schwachen hatten; sie war nach dem Selbstverständnis ihrer Mitglieder Sprachrohr und Organisator der Unterdrückten.
Und heute? Zählen diejenigen, die im Angesicht der aktuellen Krise gehen, nicht zu den Schwachen, oder fühlen sich die Schwachen durch den DGB nicht mehr vertreten? Darauf gibt es im politischen Alltagsgeschäft zwei routinierte Antworten: Eine aus dem Apparat und eine von den linken Kritikern. Keinen besonderen Grund zur Aufregung sehen Spitzenfunktionäre wie der DGB-Chef Heinz-Werner Meyer. Ein Mitgliederschwund begleitete noch jede Krise, „dies ist für uns keine neue Erfahrung“. Leider kann man nichts machen, also weiter so wie bisher!
Die Diagnose von links unten erklärt den Schwund und Einflußverlust dagegen vor allem mit dem Versagen der Führung. Demnach fliehen die Menschen den DGB, weil die Spitzenfunktionäre nicht energisch genug kämpfen – also aus Frust über die zu kompromißlerisch agierende Gewerkschaftsführung. Die Basis erschien aus dieser Sicht immer edel und gut, das „falsche“ Bewußtsein allein der korrupten Führung geschuldet. Ganz falsch war die Kritik an der Führung nie, aber am Kern der Sache ging sie vorbei. Die westdeutschen Gewerkschaften waren im Bewußtsein vieler ihrer Mitglieder immer eher ein Versicherungsverein als ein solidarischer Kampfverband, zu dem man in schlechten wie in guten Zeiten stand. Die Auflösung proletarischer Lebens- und Wohnformen hat diesen Mutationsprozeß von dem ursprünglichen Klassenverband hin zu einer Dienstleistungsorganisation in den letzten Jahrzehnten beschleunigt. Altlinke Rezepte von der Vitalisierung des Klassenkampfes helfen dagegen nicht, weil sich die alten industriegesellschaftlichen Lebens- und Arbeitswelten radikal verändert haben. Das macht die dauerhafte Organisation der Lohnabhängigen auch für die Zukunft nicht überflüssig, nur, die alten Rezepte taugen dafür nicht. Die Antwort, wie Solidarität in einer sich atomisierenden Gesellschaft zu entwickeln ist, steht noch aus – sowohl vom Apparat wie von seinen Kritikern! Walter Jakobs
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