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■ Zum MTV-Konzert am Brandenburger TorDie Angst vor der wahren Bewegung

Hinter dem Brandenburger Tor – von Osten aus gesehen – stand einmal eine Mauer. Sie war niedriger als im übrigen Berlin. Seltsamerweise hatte die DDR- Führung dafür gesorgt, daß man das Symbol der Einheit und Teilung auch von Westen her in voller Größe sehen konnte. Die Mauer war an dieser Stelle nur zwei Meter hoch, dafür aber auch zwei Meter breit. In der Nacht zum 10. November 1989 tummelte sich darauf das Volk. Von hier aus durchquerte es das Tor, das von beiden Seiten unerreichbar gewesen war. Es eroberte sich den historischen Raum zurück.

Diese Bilder hatte auch die MTV-Führung in Erinnerung, als sie sich entschloß, das Berliner Logo zum Hintergrund ihrer Music-Awards-Inszenierung zu nehmen. Dafür baut sie eine neue Mauer: 2.500 handverlesene Zuschauer reichen ihr, um das Bild der spontan zuckenden Masse abzugeben. Das Publikum dürfte nach ästhetischen und moralischen Kriterien ausgewählt sein. Sie müssen hübsch sein, dürfen aber auch – das gilt besonders für die Jungs – auf eine charakteristische, „originelle“ Weise häßlich aussehen, wie es die Mode zur Zeit vorsieht. Ganz bestimmt sehen die „Codes of Conduct“ von MTV auch eine gewisse multikulturelle Durchmischung vor.

Was ist mit den Zuschauern, die sich ohne Einladung zum Ort des Geschehen begeben werden? Da wird das MTV-Event zur Polizeimaßnahme. Absperrungen werden dafür sorgen, daß das Bild von der „wahren Bewegung“, aus dessen Substanz der Sender saugt, um seine europäische Identität zu untermauern, nicht von einer tatsächlichen gestört wird: Vollkommene Entleerung des historischen Raums wird die Folge sein.

Ich erinnere mich an ein Konzert, das Michael Jackson 1988 vor dem Reichstag gab. Die Mauer war an diesem Tag – von Osten her – noch unerreichbarer als sonst. Die Volkspolizei hatte Zäune aufgestellt. Fans, die sich dennoch in die Gegend wagten, wurden mit Schlagstöcken traktiert. Popmusik war grenzüberschreitend. Man fürchtete die spontane Masse. Thierry Chervel

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