■ Zum Gejammer nach den Europa- und Kommunalwahlen: Kein Fall für Antidepressiva
Gewinne für die CDU, Verluste für die SPD, die alte Selbstgefälligkeit des Kanzlers ist wieder da. Und mit ihr die Depression: Wir werden den Dicken niemals los. Bei näherem Hinsehen besteht zu Resignation allerdings kein Anlaß. Vor lauter Enttäuschung bleiben die tatsächlichen Konsequenzen der Wahlen im dunkeln. Und die sind gar nicht so schlecht.
Viel zu wenig Beachtung findet das zweistellige Ergebnis der Grünen. Wann hat es das jemals gegeben? Die 10 Prozent der Ökopartei sind genauso sensationell wie ihre Ergebnisse in den Berliner Bezirken Kreuzberg (34 %) und Schöneberg (28 %), wo sie im Herbst das Direktmandat gewinnen kann.
Untergegangen in der Sonntagabend-Depression ist aber vor allem die Tatsache, daß die Regierungskoalition keine Mehrheit mehr hat. Die CDU/CSU hat gegenüber 1989, als sie in ein kräftiges Stimmungstief eingebrochen war, gerade einen Prozentpunkt zugelegt. Die Partei des Kanzlers liegt – da kommt Freude auf – bundesweit bei ganzen 38 Prozent, von denen vier Prozent eine Leihgabe der „Republikaner“ sind.
Die Abfuhr für den Weichspüler und politischen Opportunisten Scharping ist eine weitere Frohbotschaft des Wählers. Die Perspektiven für Rot-Grün wären sehr viel schlechter gewesen, wenn die SPD für ihr kohlsches Mimikry auch noch belohnt worden wäre. Die SPD hat einen Wahlkampf gegen sich selbst geführt. Mit Law-and-order-Parolen, Verschuldungspanik und ökonomischer Fixierung hat sie Themen in den Vordergrund geschoben, gegen deren Dominanz sie jahrelang gekämpft hat. Der Widerspruch zwischen der Stimmung an der Basis und den dußligen Wahlspots hätte größer nicht sein können. Während die SPD-Mitglieder auf den Rathausplätzen rote Nelken „aus ökologischem Anbau“ verteilten, schreckte die Partei den Wähler mit Angstparolen. Doch der hat Scharpings Kurs zurück zur Partei der Gartenzwerge nicht honoriert. Jetzt muß die Restvernunft in der SPD Rotkohl in Frühlingsgemüse verwandeln.
Das Scheitern der „Republikaner“ ist der vierte Pluspunkt. Die Reps sind wieder dort, wo sie hingehören – sie müssen draußen bleiben. Daß ihre Stimmen überwiegend der Union zugute kommen, liegt in der Natur der Sache. Dennoch ist Schönhubers Euro-Absturz ein politischer Erfolg.
Bleibt als letzte Erkenntnis der wahrscheinliche Einzug der PDS in den Bundestag über den Gewinn der notwendigen drei Direktmandate. Das mag man bedauern, das macht die Situation noch unübersichtlicher, das erschwert auch die Chancen für Rot-Grün. Rein arithmetisch betrachtet, reduziert das allerdings vor allem die Chancen für die bestehende Regierungskoalition. Kohl/Kinkel sind und bleiben ein Auslaufmodell ohne Mehrheit. Manfred Kriener
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