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■ Zum 25. Todestag des US-amerikanischen BürgerrechtlersDie beiden Augen Martin Luther Kings

Heute vor 25 Jahren wurde einer der wahrhaft großen Helden der amerikanischen Geschichte brutal ermordet. Martin Luther King war einer der wenigen Menschen, die es vermochten, mit einem Handschlag, den Blick nach vorn gerichtet, soziale und politische Konstellationen fundamental zu verändern. Wie würde dieser Mann, der – wenn es denn einen Himmel gibt, sicher einen erhöhten Platz darin einnimmt – die Lage der Afroamerikaner, seines geliebten Volkes, heute einschätzen?

Wenn man sich seines Temperaments erinnert, kann man davon ausgehen, daß er ohne Zorn und Verachtung wäre. Eine der größten Begabungen Kings bestand darin, daß er seine Feinde nicht durch Haß besiegte, sondern dadurch, daß er sie als ungerecht, amoralisch und bösartig erscheinen ließ. Auf diese Weise erniedrigte King seine Gegner und zwang sie, sich zu ändern – oder seine Mörder zu werden. Heute ist allgemein bekannt, daß King dies sehr genau wußte, zumindest intuitiv. Es muß ihm eine solche Kraft gegeben haben, daß er schließlich die Rassentrennung besiegte, und damit nichts geringeres vollbrachte als das Ende des 100jährigen Bürgerkriegs. Die Union konnte so endlich in den späten 60er Jahren ihren Sieg verkünden. Unterstützt wurde er von Lyndon B. Johnson, dem brillanten Politiker und Parlamentarier, dessen Verbrechen in Vietnam einer Liste von Bürgerrechten gegenüberstehen, die in der amerikanischen Geschichte ohne Beispiel ist: das Stimmrecht für die Schwarzen, den Bürgerrechtserlaß, die Berufung von Richter Thurgood Marshall an den Obersten Gerichtshof, um nur einige zu benennen. Mit dieser Rückendeckung gelang es Martin Luther King jr., den Afroamerikanern zumindest formal jene Grundrechte zu erkämpfen, die jede Demokratie ihren Staatsbürgern gewährt.

Was die heutige Lage seines Volkes betrifft, würde King sicher eher wohlwollend zur Erde herabschauen. Rassentrennung und offener Rassismus auf jeder Ebene des täglichen Lebens, im Amerika Martin Luther Kings allgegenwärtig (auch im Norden), sind heute verschwunden. Afroamerikaner haben national bedeutsame Positionen inne (wo sie auch respektiert und gemocht werden), die auch jenseits der traditionellen Bereiche Sport und Unterhaltung liegen. Der gegenwärtige oberste Stabschef, wahrscheinlich der beliebteste und geachtetste Beamte in dieser Position seit George Marshall, ist ein Afroamerikaner mit deutlichem Präsidentenprofil – oder jedenfalls dem entsprechenden Ehrgeiz. Eine Afroamerikanerin ist Senatorin des bedeutsamen Staates Illinois; eine ihrer afroamerikanischen Schwestern ist eine der angesehensten Dichterinnen des englischsprachigen Raumes und die Lieblingsdichterin des gegenwärtigen Präsidenten. Ihr Gedicht bewegte Millionen Amerikaner aller Rassen, als es beim Amtsantritt des Präsidenten verlesen wurde. Kurz: Martin Luther Kings eines Auge würde in Stolz und Freude erstrahlen angesichts dessen, was sein Volk im Kampf um seinen, Kings, und schließlich den amerikanischen Traum erreicht hat.

Kings zweites Auge allerdings wäre zweifellos mit Tränen der Sorge, der Trauer und der Enttäuschung, wenn nicht des Zorns gefüllt. Denn gleichzeitig mit diesen unbestreitbaren Fortschritten gab es eine ernstzunehmende Stagnation, wenn nicht einen Rückschritt für die Angehörigen einer großen, zunehmend verarmten afroamerikanischen Unterschicht. Nach zwölf Jahren Vernachlässigung durch die Reagan-Bush-Administrationen sind sie in fast allen Bereichen des amerikanischen Lebens benachteiligt. Doch selbst der Aufstieg vieler Afroamerikaner in die Mittelklasse des Landes hat ihre Schattenseiten, zerstörte sie ihrerseits wichtige Schlüsselelemente der Gemeinschaft und des Zusammenhangs, die einst das Leben der neighborhoods in den Großstädten prägten. Heute sind diese Viertel von Drogen und Gangs verwüstet. Diese Unterschicht ist zumindest de facto, wenn nicht sogar de jure genauso weit von Kings Traum vom Gelobten Land entfernt wie die Krypto-Sklaven auf den Baumwollfeldern des Südens in Kings Jugend. Die Hoffnungslosigkeit und Entpolitisierung in diesem Milieu ist spürbar. So äußerte ein Befragter in einem Fernsehinterview mit Gang-Mitgliedern aus Los Angeles, er hoffe, daß die Polizisten, die Rodney King verprügelt hatten, wieder auf freien Fuß gesetzt würden, damit es einen legitimen Grund gäbe, die riots wieder aufleben zu lassen. Es war klar, daß für diese jungen Leute die Straßenkämpfe ein Selbstzweck sind, kein politisches Mittel.

Traurigerweise haben diese Jugendlichen keine Helden; nicht Martin Luther King, nicht Jesse Jackson, vielleicht nicht einmal Malcolm X. Eine Bestätigung für dieses Gefühl von Unverbundenheit, das viele von ihnen spüren, ist die Tatsache, daß die Suche nach einem neuen Anführer für die größte, meist respektierte und einflußreichste Bürgerrechtsorganisation und schwarze interest group, der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) auf sehr geringes Interesse in den innerstädtischen schwarzen Gemeinschaften stößt. Ach ja, Jesse Jackson will es machen, na und? Wen kümmert's? Welchen Unterschied macht das? In gewisser Weise ist das Elend der afroamerikanischen Unterschicht kein Thema für eine politische Bewegung, und völlig jenseits der Agenda politischer Interessenvertretung. Nie wären sie Teil einer Regenbogenkoalition. Sie verkörpern nur die schwersten Regentropfen eines unaufhörlichen Gusses, dessen Ende nicht in Sicht ist.

Könnte Martin Luther King diesen Menschen irgendwelche realistischen Hoffnungen geben? Nur wenn die wirtschaftliche Lage sich unerwartet kräftig erholt, und wenn Bill Clintons Elan und seine guten Absichten einen Weg in die politische Realität finden. Angesichts dieser beiden „Wenns“ ist jede Skepsis berechtigt. Und doch wäre King sicherlich zufrieden über die Tatsache, daß zum ersten Mal seit Lyndon B. Johnson und Jimmy Carter eine Familie ins Weiße Haus eingezogen ist, die Afroamerikaner nicht nur als Fälle für die Wohlsorge oder sozialer Verantwortung betrachtet (oder, schlimmer noch, als X Wählerstimmen), sondern als völlig gleichberechtigte Teile des amerikanischen Projekts. Die Tatsache, daß die Clintons Afroamerikaner regelmäßig zu Diskussionen ins Weiße Haus geladen haben, bei denen es um wichtige Streitfragen ging, ist ein hoffnungsträchtiges Zeichen. Ob sich dies allerdings auch auf den Arbeitsmarkt in Los Angeles auswirken wird, darüber würde wohl nicht einmal Martin Luther King jr. eine Prognose wagen. Andrei Markovits

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