■ Zum 20jährigen Jubiläum der Anti-AKW-Bewegung: Gorleben als Metapher
„Gorleben soll leben“, hieß die Parole vor fünfzehn Jahren. Landauf, landab wurde die freundlich-militante Gebrauchslyrik von Zehntausenden Atomkraftgegnern verbreitet. Damals drohten dem Wendland unter anderem eine Wiederaufbereitungsanlage für abgebrannte Brennelemente, ein Zwischen- und ein riesiges Endlager für hochradioaktiven Atommüll. Unzählige Widerstandsaktionen – von Straßenblockaden über Treckerdemonstrationen bis zum Hüttendorf – machten den Ort zu einer politischen Metapher. Gorleben wurden neben Wyhl, Brokdorf, Kalkar, den Plutoniumfabriken in Hanau, der Frankfurter Startbahn West und Wackersdorf zu einem exemplarischen Bestandteil der sozialökologischen Protestkultur in der „alten“ Bundesrepublik.
Und Gorleben lebt. Nach all den Kämpfen ist, sieht man von „Schacht Konrad“ für schwachradioaktive Abfälle ab, ein seit zehn Jahren leerstehendes Zwischenlager übriggeblieben, das nun erstmals, unter fragwürdigen Umständen, beschickt werden soll. Der sofort wiederaufgeflammte Protest der Bürgerinitiativen wie der niedersächsischen Landesregierung erinnert daran, daß die in diesen Wochen ihr zwanzigjähriges Jubiläum feiernde Anti-Atomkraft-Bewegung alles in allem eine erstaunliche, zugleich kurvenreiche Erfolgsgeschichte ist. Allerdings wartet sie immer noch auf ihre Ratifizierung.
Längst besteht in Deutschland ein faktisches Moratorium für den Bau von Atomkraftwerken, und die weiterhin – trotz aller bohrenden Erkundungen, Gutachten und amtlichen Versicherungen – ungelöste Frage der Endlagerung (nach dem Scheitern von Wackersdorf) belastet den Weiterbetrieb der bestehenden Reaktoren jeden Tag ein Stück mehr mit einer Verantwortung, die niemand übernehmen kann, ganz sicher nicht Bundesumweltminister Töpfer.
In den vergangenen zehn Jahren, erst recht seit Tschernobyl, haben Meinungsumfragen, auch Landtagswahlergebnisse und entsprechende parlamentarische Mehrheiten gezeigt, daß es eine klare Mehrheit für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie gibt. Doch solange sich dieser Wille nicht in einer Mehrheit des Bundestages und der Bundesregierung manifestiert, sind die entscheidenden Weichenstellungen für eine andere Energiepolitik nicht möglich.
Im Vorfeld der Bundestagswahl stünden die Zeichen nicht schlecht, wäre da nicht SPD-Kanzlerkandidat „Ziege“ Scharping, der im Zweifel lieber originelle und zukunftweisende Slogans wie „Arbeit! Arbeit! Arbeit!“ verkündet und sich auf dem „Heißen Stuhl“ fernsehgerecht in die Rolle eines Sachbearbeiters im Finanzamt Idar-Oberstein drängen läßt.
Aber auch der Protest an der „Basis“ ist nicht mehr, kann nicht mehr sein, was er früher war. Seine einst transzendente Aufladung mit apokalyptischen Visionen, die eine Art negativer Aktionseuphorie hervorbrachten, ist in Zeiten, da die realen Katastrophen jede Menge Anschauungsunterricht bieten, schlicht anachronistisch. Zudem verhindert eine bestimmte Ausprägung abgrundtiefer Betroffenheit nicht nur den freien Blick auf eigene Fehleinschätzungen und „alarmistische“ Übertreibungen, sondern auch auf mögliche Koalitionen der ökologischen Vernunft.
Hinzu kommt, daß das identitätsstiftende Moment des Protests in dem Maße geringer geworden ist, wie sich das Problem der gesamten Gesellschaft bemächtigt hat.
Die Welt-Ereignisse 1989/1990, aber auch die neue, erschreckende Kriegsrealität im südöstlichen Europa haben die Umwelt, das große Thema zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, kurzfristig verdrängen können. Aber nun kehrt dieses Thema zurück.
Nachdem die achtziger Jahre das Bewußtsein für die ökologischen Herausforderungen, die zum Teil tatsächlich den Charakter von „Zeitbomben“ tragen, in einer merkwürdigen Dialektik von sozialer Bewegung und staatlicher Administration entwickelt haben, kommt es in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre darauf an, den gesamten Komplex wieder als explizit politische Frage zu begreifen.
Das betrifft das Verhältnis von Ökologie und Ökonomie ebenso wie die Beziehung der Bürger zur ihrer Republik, in der eben auch die „Existenzfragen“ demokratisch entschieden werden müssen. Vielleicht bietet „Gorleben 94“ als aktuelle Metapher die Chance, einen neuen Anfang zu wagen. Auch und gerade im Superwahljahr. Reinhard Mohr
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