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Der Kommentar

Zukunft der Gesundheitsversorgung Keine neuen Hüften mehr

Gesundheitsminister Karl Lauterbach will die Zusatzbeiträge der gesetzlichen Krankenkassen anheben. Das bringt nichts. Es braucht jetzt eine echte Strukturreform, sonst wird es bitter.

Foto: picture alliance/dpa

Von UDO KNAPP

taz FUTURZWEI, 05.07.22 | Die Entschlossenheit, mit der der Umbau der Energieversorgung und die Wiederaufrüstung der Bundeswehr vorangebracht werden, müsste dringend auch in die Arbeit an den Großkrisen des Sozialsystems verlängert werden. Aber in der Gesundheitspolitik herrschen weiterhin Kleinmut und sozialdemokratisches Heftpflasterkleben auf Krankheiten, die eines chirurgischen Eingriffs bedürfen.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) muss für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) im Jahr 2023 ein zu erwartendes Defizit in Höhe von wahrscheinlich 17 Milliarden Euro schließen. Weil Finanzminister Lindner (FDP) sich weigert, das Defizit aus dem Haushalt des Bundes zu decken und Lauterbach jegliche Leistungskürzungen ablehnt, muss er einen anderen Weg einschlagen. Er schlägt vor, den Zusatzbeitrag zur GKV von jetzt 1,3 Prozent um 0,3 Prozent zu erhöhen. Diesen Zusatzbeitrag muss jeder der 72 Millionen in der GKV-Versicherten über die mit den Arbeitgebern geteilten 14,6 Prozent seiner Brutto-Einnahmen hinaus allein bezahlen.

Der Gesamtbeitrag zur GKV läge dann erstmals bei über 16 Prozent. Zusätzlich sollen die Kassen ihre Rücklagen bis zur pflichtigen Liquiditätsreserve auflösen; soll die Arzneimittel-Industrie eine Milliarde Euro aus ihren Corona-Extragewinnen beisteuern; soll der Bund der GKV ein Darlehen in Höhe von einer Milliarde gewähren; sollen für drei Milliarden Effizienzmaßnahmen bei allen GKV-Dienstleistungen zu Einsparungen führen. Dabei sind in diesem Vorschlag die zehn Milliarden noch nicht enthalten, die die GKV für die Gesundheitsbeiträge aller Hartz IV-Bezieher aufbringen muss.

Die demographische Entwicklung wird für weitere Steigerungen der Gesundheitskosten sorgen

Unterm Strich bedeutet das für die Versicherten eine Erhöhung ihrer GKV-Abgaben, ohne dass sich am Alltag des Gesundheitswesen irgendetwas verbessert. Schlimmer: Die Beiträge müssen immer weiter steigen, ohne Gegenleistung für die Versicherten – das ist die Botschaft Lauterbachs zu seiner zukünftigen Gesundheitspolitik.

Die Ursachen für die Kostensteigerung der gesetzlichen Krankenversicherung sind seit Jahren bekannt. Es ist vor allem die demographische Entwicklung. Wie bei den Renten sorgt auch der Generationenvertrag mit seiner Umlagefinanzierung der gesamten GKV dafür, dass immer weniger Junge die Gesundheitskosten von immer mehr Alten tragen. Letztere zahlen von ihren Renten geringere Beiträge als die Jungen, leben immer länger und verursachen in ihrem letzten Lebensabschnitt exponentiell steigende Kosten für die GKV.

Wenn die von Minister Lauterbach auf den Weg gebrachte Beitragserhöhung, an die demographische Verteilung angepasst, jährlich fortgeschrieben würde, dann stiegen nach einer bis heute gültigen „Duisburger Studie“ aus dem Jahr 2008 die GKV-Beiträge bis zum Jahr 2040 auf 31,2 Prozent. Der Subventionsbedarf für die Beiträge aus den öffentlichen Haushalten, der sich aus der Alterung ergibt, würde von heute etwa 10 auf 23 Prozent ansteigen.

Ohne eine Reform des Gesundheitssystems stehen radikale Leistungskürzungen bevor

So hohe Beiträge der Versicherten und so hohe Zuschüsse aus den öffentlichen Haushalten für die GKV sind völlig unrealistisch. Deshalb kann die Politik schon in wenigen Jahren die Finanzierung der GKV, wenn sie auf Strukturreformen verzichtet, nur noch mit radikalen Kürzungen ihres Leistungskataloges sowie Preisobergrenzen für den Therapieeinsatz und Mengenrationierungen für alle anderen Gesundheitsdienstleistungen sichern. Der heute gültige Anspruch jedes Kranken auf die für ihn bestmögliche zugelassene Therapie würde durch eine Kosten-Nutzen-Abwägung im Klinikalltag ersetzt. Eine optimale Gesundheitsversorgung gäbe es nur noch für die privatversicherten Besserverdiener. Für andere über Sechzigjährige gäbe es dann, nur zum Beispiel, keine neuen Hüften mehr. Das ist keine Dystopie: Ohne strukturelle, effizienzsteigernde Reformen im gesamten Gesundheitssystem taumelt die Politik in solche Verhältnisse.

Bis ins Detail ausgearbeitete Vorschläge für solche strukturellen Reformen gibt es seit vielen Jahren. Mit einer mutigen Reformagenda ließe sich bis 2040 eine Sicherung hoher, wissenschaftlich begründeter Qualitätsstandards verbunden mit nur moderaten Beitragssteigerungen erreichen. So ließe sich die Einnahmenseite der GKV verbessern, wenn alle Einkommensarten, das gesamte steuerpflichtige Einkommen, zu ihrer Finanzierung progressiv herangezogen würden.

So ließe sich die kostentreibende Spaltung des Gesundheitsmarktes aufheben, wenn die privaten Krankenversicherungen wieder abgeschafft und alle Kassen in einer GKV-Generalkasse zusammengeführt würden. So ließen sich durch die Zusammenführung von Krankenkassen und Pflegeversicherung kostensparende Strukturen für eine optimale Versorgung aus einer Hand aufbauen.

Eine solidarische Perspektive für den Generationenvertrag

So ließen sich durch die Aufhebung der Trennung von ambulanten und stationären Versorgungstrukturen für Gesundheitsdienstleistungen jeder Art und stattdessen ein Zusammenführen in evidenzbasierten regionalen Versorgungsnetzen systematisch Kosten sparen. Die heute viel zu große Krankenhauslandschaft könnte, daran angepasst, bedarfsgerecht neu gegliedert werden.

So würde eine pflichtige digitale Gesundheitskarte für alle in der GKV-Universalkasse Organisierten und eine transparente kostensparende Optimierung der Gesundheitsdienstleistungen für jeden Einzelnen ermöglicht. So könnte eine nachhaltige Medizin entwickelt werden, die präventiv dazu beträgt, Gesundheit zu erhalten, in vielen Fällen Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen und oft lebenslange, kostenintensive Therapien zu vermeiden.

So wie heute den Leuten zur Linderung anderer Großkrisen gut begründete strukturelle Veränderungen und Beschwernisse zugemutet werden können, ohne Volksaufstände auszulösen, so könnte doch auch der Sozialdemokrat Karl Lauterbach kostenehrlich den steinigen Weg zu einem besseren und gerechteren Gesundheitssystem für 2040 einschlagen. Dann wäre die Chance groß, dem Generationenvertrag trotz demographischer Unwuchten zwischen vielen Alten und wenigen Jungen eine solidarische Perspektive zu erhalten.

UDO KNAPP ist Politologe und kommentiert an dieser Stelle regelmäßig das politische Geschehen für taz FUTURZWEI.