■ Zu den radioaktiven Funden in Fächern und Koffern: Heißes Material und kalte Füße
Zugegeben, die Vorstellung vom ahnungslosen Kleinkriminellen, der am nuklearen Zündknopf herumfummelt, wie bisher nur die Herren Bush, Jelzin, Mitterrand, Major oder Li Peng, ist ausgesprochen ungemütlich. Und die Tatsache, daß der gar nicht neue Atomalien-Schwarzmarkt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zusätzlich auf ein Heer devisengeiler Strahlentechniker in den Staaten der GUS zurückgreifen kann, trägt auch nicht gerade zur Beruhigung bei. Dennoch, die in rasantem Rhythmus auffliegenden heißen Geschäfte mit radioaktivem Material fordern ihre Opfer bisher nur unter den von ihren Lieferanten gelinkten Nuklearschmugglern. Das meiste, was da an Teufelskram vom Osten herüberkommt, ist lebensgefährlich für den Einzelnen, zum Bombenbau aber gänzlich ungeeignet. Die Situation ändert sich grundlegend, wenn tatsächlich, wie öffentlich gemutmaßt wird, zwanzig Kilogramm hochangereichertes Uran 235 in Bahnhofsschließfächern zwischen Rhein und Ruhr vor sich hinstrahlen. Das Päckchen reicht im Idealfall für einen nuklearen Sprengsatz. Doch auch der Weg vom Bombenstoff zur Bombe läßt sich nicht umstandslos in Vaters Hobbykeller zurücklegen. Gefragt sind zudem jede Menge High-Tech-Utensilien, die schon auf dem legalen Markt nicht eben billig zu haben sind. In der Regel eher ein Fall für skrupellose Staatsmänner denn für kriminelle Waffenschieber.
Die aufgeregte Debatte über in Kofferräumen deponierte Strahlenquellen lenkt ab vom eigentlichen Problem. Aus ehedem fünf Atommächten wurden über Nacht acht. Mittlerweile neunundzwanzig Staaten verfügen über zivile Atomanlagen. Sie alle sind potentielle Atomwaffenstaaten. Die internationalen Überwachungsbehörden kontrollieren — lückenhaft — ausschließlich den zivilen Nuklearsektor, und den nur in solchen Staaten, die den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet haben. Die geradezu rührenden Appelle der Bundesregierung an die Adresse der UdSSR-Nachfolgestaaten, man möge doch an den Grenzen genauer nach den Strahlenstoffen schauen, spiegeln die ganze Hilflosigkeit der Politik angesichts eines weltweiten Nuklearmarkts wider, der sich in Zukunft noch viel weniger als bisher unter Kontrolle halten läßt.
1995 läuft der Sperrvertrag aus. Immer mehr Staaten wollen das gegenwärtige Zwei-Klassen-Recht, das einem exklusiven Club den Besitz von Kernwaffen auf Dauer erlaubt und ihn allen anderen auf Dauer verbietet, nicht länger hinnehmen.
Angesichts solcher Perspektiven gehört auf die internationale Tagesordnung nicht mehr und nicht weniger als „das Ende des Atomzeitalters“ — und ganz nach oben die Selbstverpflichtung der gegenwärtigen Bombenstaaten, ihre Waffenarsenale in benennbaren Zeiträumen vollständig zu räumen. Die Alternative ist die Ausdehnung der sozialen Marktwirtschaft auf das Feld der Atomwaffen. Gerd Rosenkranz
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