Zu VerschenkenKatrin Seddig : Natürlich, die Wahl. Und dann ist da ja auch noch der Nahverkehr
Montagmorgen, die Wahlergebnisse stehen fest und es fällt mir schwer, über etwas anderes als das nachzudenken. Es lässt sich nicht ignorieren, es ist immer da, wie eine stark gemusterte Tapete im Raum, aber ich kann mir auch die Möbel ansehen, den Teppich, kann mich Besuch zuwenden, die Tapete ist da, die Tapete geht nicht weg, ich muss mich an die Tapete gewöhnen, auch wenn ich mich an die Tapete nicht gewöhnen kann.
Meine Schwester schickt mir einen Link zu den Wahlergebnissen in Darmstadt. Hier kommen die Grünen auf dreißig, SPD und CDU auf ungefähr zwanzig, AfD um zehn und die Linke auf knapp zehn Prozent. Hier lebe sie gern, schreibt meine Schwester, und ich sehe mir die Wahlergebnisse in Hamburg an.
Ein vielleicht besseres Bild noch als die Tapete: Ich fahre mit dem Bus, die Leute stehen in den Gängen, alle Plätze sind besetzt. Ich sitze ganz hinten und die Tür öffnet und schließt sich, öffnet und schließt sich, irgendwas ist mit der Tür, das hat man schon an der vorherigen Haltestelle beobachten können, als die Tür die gleichen Schwierigkeiten hatte.
„Treten Sie bitte aus der Tür!“, sagt der Busfahrer durch die Sprechanlage, er ist erbost, man hört es.
Da steht ein Junge, vielleicht siebzehn, aber nicht in der Tür, sondern im Gang, ordnungsgemäß weit von der Tür entfernt, das immer noch unentwegte Öffnen und Schließen der Tür hat mit ihm gar nichts zu tun. Aber da nun die – erboste – Stimme des Busfahrers wiederholt durch den Bus schallt, und da es seine Tür ist, die Tür, vor der er als nächster Mensch steht, fühlt er sich angesprochen, ermahnt, zurechtgewiesen. „Ich stehe nicht in der Tür, du Hund!“, ruft der Junge und sieht sich um. Die Leute sehen weg. Niemand will Blickkontakt mit einem Menschen, der zu einem anderen Menschen „Du Hund“ sagt.
„Du Hund!“, wiederholt der Junge und starrt jetzt auf den Boden, rückt aber auch gleichzeitig noch mehr von der Tür ab, die unentwegt sich öffnet und schließt. Weiter kann der Junge von der Tür nicht mehr abrücken, denn im Gang ist es voll. Ich denke, der Busfahrer hat den Jungen doch gar nicht gemeint, er kann den Jungen auch gar nicht sehen – oder gibt es eine Kamera in dem Bus?
Und wenn er doch durch eine Kamera den vollen Bus bis ganz nach hinten übersehen kann, dann erkennt er, dass der Junge eben nicht in der Tür steht. Dass es nicht seine Schuld ist, dass die Tür sich nicht schließen lässt und wir alle nicht weiterfahren können, denn das können wir nicht, wenn die Tür nicht zu ist. Der Busfahrer hat die Person angesprochen, die den Schließmechanismus der Tür stört, und diese Person gibt es nicht.
Es liegt am System, und nicht an dem Jungen, er ist nicht gemeint und muss das auch wissen. Er muss auch wissen, dass der Busfahrer ihn nicht hören kann, durch den vollen Bus hindurch, bis ganz nach vorne und während der Motor läuft.
Der Busfahrer kann nicht hören, dass der Junge ihn „Hund“ nennt. Warum hat der Junge das dann getan? Für uns? Für mich, die ihm am nächsten sitzt? Hat er es getan, damit wir sehen, dass er sich zu wehren weiß, wenn es zumindest so scheinen mag, als würde er eines Vergehens beschuldigt werden?
Ich möchte ihm sagen, dass man einen Menschen nicht Hund nennt, nicht jedenfalls aus solch einem schwachen Grund, aber ich fühle mich selbst schwach, ich will in diesen Konflikt, der vollkommen aneinander vorbeiläuft, nicht einsteigen. Und dann bleibt die Tür zu, der Bus fährt an.
Zu verschenken: FDP und BSW.
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