■ Zu Vera Gaserows „Rückzugskritik“ an den TürkInnen: Selbstgefällige Ignoranz
Die taz-Autorin Vera Gaserow ließ sich am 9. Mai über den „Rückzug (der Türken in Deutschland) auf die türkischen Medien“ aus, was aus ihrer Sicht ein Problem darstelle. „Die türkische Community hat in den vergangenen Jahren ein immer stärkeres mediales Eigenleben entwickelt“, schrieb sie, und daß „sich weite Teile der türkischen Minderheit in diese mediale Selbstisolation zurückziehen“. Die Medien, die sich die Türken hier aufgebaut hätten, seien entweder nationalistisch oder fundamentalistisch – beispielsweise der Berliner Lokalsender TD1: „(...) Spielshows, Telefonate mit Zuschauern und dilettantisch gemachte Beiträge auf unterstem journalistischen Niveau“.
Anlaß für die Aufklärung des deutschen Lesers über diese „problematische“ Entwicklung hatte die Spendenkampagne des türkischen Staatsfernsehens TRT-Int für die Armee gebildet, gegen die bei der Landesmedienanstalt Beschwerde eingelegt worden war und über die am selben Tag beraten werden sollte. Einen Tag darauf, am 10. Mai, hat die Türkei noch einmal Eingang in die taz gefunden, und zwar mit der Kurzmeldung über den Bonn-Besuch des türkischen Ministers für Menschenrechte. Mit keinem Wort wurde in den deutschen Tageszeitungen am selben 10. Mai das „Opferfest“ erwähnt. Das höchste islamische Fest war den deutschen Medien, einschließlich der taz, keine Nachricht wert.
Daß sie an diesem Tag wie immer zur Arbeit gehen müssen, macht den Türken, Kurden und anderen Muslimen in Deutschland weniger aus als die Tatsache, daß kaum ein Deutscher – kein Nachbar, kein Kunde, keine Kollegen und kein Journalist – über die Festtage Bescheid weiß.
Die Türken in Deutschland als „EinwanderInnen“ oder „Minderheit“ zu bezeichnen, ist eine Verklärung der Tatsachen: In den ewigen Status des polizeilich erfaßten Ausländers gedrängt, haben sie in diesem Land keine politische, mediale oder kulturelle Existenz. Hier geborene junge Türken, die sich schon längst als einen Teil dieser Gesellschaft verstanden, erfahren mit zunehmendem Alter, daß sie „nicht dazugehören“: Nicht nur Mölln und Solingen haben das Bewußtsein der Türken für ihre Ausgrenzung geschärft – die selbstgefällige Ignoranz der deutschen Gesellschaft gegenüber den zwei Millionen Türken in Deutschland ist eine tägliche Erfahrung, über die keine weihnachtlichen Lichterketten hinwegtäuschen können.
Junge Türken, die aus Gymnasien kommen, bis vor kurzem nur deutsche Freunde hatten und kaum Türkisch sprechen können, entdecken jetzt, daß sie „anders“ sind. Dieser Prozeß hat sicherlich mit der heutzutage verstärkten Identitätssuche zu tun. Aber daß sie ihre Identität wieder im „Rückzug auf das Türkische“ finden, ist allein das Verdienst der deutschen Gesellschaft, die das Andersartige nicht als interessant, geschweige denn als gleichwertig behandelt.
Die im besagten Artikel als „Telefonate mit Zuschauern“ unterschätzten Sendungen des türkischen Lokalsenders TD1 sind ein Ventil für die Türken in Berlin: In diesen Sendungen, wo die Zuschauer sich darum reißen, an die Reihe zu kommen, können sie, die kleinen Leute, um deren Meinung niemand fragt, endlich ihr Herz ausschütten: Sie dürfen reden, werden verstanden. TD1 ist das Bürgerfernsehen par excellence. Das große Interesse an den tatsächlich „journalistisch auf niedrigstem Niveau“ gemachten Sendungen der türkischen Lokalsender ist allein auf den Umstand zurückzuführen, daß sich sonst kaum jemand für die Meinung der Türken interessiert, sei es in Form von Sendungen, sei es auf dem Wahlzettel.
Der türkischen Medienexplosion als „Ausdruck einer mangelnden Integration“ versucht Vera Gaserow in ihrem Artikel im Gespräch mit dem Vertreter des Türkischen Bundes Berlin-Brandenburg mit der Frage auf die Schliche zu kommnen: „Vielleicht interessiert die türkische Gemeinschaft sich deshalb nicht für die deutsche Gesellschaft, weil sie gut ohne sie auskommen?“ Eine wahrlich originelle Vorstellung: Leben die Türken etwa nicht hier? Gehen sie nicht in deutschen Betrieben arbeiten? Kaufen sie nicht bei Hertie oder Karstadt ein? Haben sie ihre Sparkonten nicht auf deutschen Banken? Besuchen sie nicht deutsche Schulen? Sehen ihre Wohnstuben anders aus als deutsche? Gibt es nicht mittlerweile türkische Rechtsanwälte und Richter, Steuerberater und Gutachter, Theaterspieler und Tänzer? Was sollen sie noch tun, um sich „zu integrieren“?
„Integration“ ist auch und vor allem Aufgeschlossenheit für das Andersartige und ehrliches, gegenseitiges Interesse. Von meinen vielen Kontakten mit den Türken in diesem Land weiß ich, daß sie fast ausnahmslos alle über das Desinteresse und die Ignoranz der deutschen Gesellschaft, über ihre tagtäglich erlebte Ausgrenzung, über Vorurteile, ja über blanken Haß verbittert sind und sich deshalb nicht zuletzt aus verletztem Stolz zurückziehen. Dazu kommt die Berichterstattung der deutschen Medien über die Ereignisse in der Türkei und in der türkischen Gemeinschaft hier, die als „zu einseitig“ empfunden wird. „Deutsche Journalisten kommen nur dann, wenn es brennt“ – das ist die vorherrschende Meinung.
Über 70 Prozent der Türken in Deutschland sind unter 35 Jahre alt. Sie sind hier geboren und aufgewachsen. Sie haben bestimmte Sichtweisen und Denkregeln in der deutschen Gesellschaft bewußt oder unbewußt aufgesogen. Nicht ohne Grund haben Rückkehrer und ihre Kinder immense Anpassungsprobleme in der Türkei. Sie sind in beiden Ländern „anders“ und haben das Pech, daß beide Gesellschaften dies nicht akzeptieren. Was den Assimilationsdruck auf die „Andersartigen“ angeht, steht die deutsche Gesellschaft der türkischen in keiner Weise nach.
Vera Gaserows Artikel ist kein Einzelfall: Unter den Linken in Deutschland herrschte über lange Zeit das Bild des „guten, zu beschützenden“ Ausländers. Jetzt scheint man sich endlich so frei zu fühlen, auch sagen zu können, daß „der Türke nicht an sich gut sein muß“. „Er“ ist nämlich chauvinistisch, zieht sich von morgens bis abends nievaulose, fundamentalistische Heimatsendungen rein, steht für Armeespenden Schlange und will sich nicht integrieren! Ich treffe sogar auf Stimmen, die gegen ein Wahlrecht für Türken sind, da sie ja „nur Ankaras Politik hierher tragen“ würden.
Angesichts solcher haarsträubenden Pauschalierungen und der Produktion neuer Feindbilder müßten die Konservativen und Ultrarechten vor Neid erblassen. Seit fünfzehn Jahren geht es in diesem Land immer noch um dieselbe Frage: Wann wird das Prinzip „no taxation without representation“ endlich auch in diesem Land gültig? Dilek Zaptçioglu
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