Zivilgesellschaft: „Ein Teil der Gesamtstrategie“
Seit dem Putschversuch regiert der türkische Staat per Notstandsdekret und nutzt die Übergangsgesetze zur Entledigung der Opposition; inzwischen auch von NGOs.
Mit der Ausrufung des Ausnahmezustands (OHAL) begann auch die Zeit der Notstandsdekrete (KHK), mit denen die AKP das gesamte Land restrukturiert. Von der Benennung der Hochschulpräsidenten über die Zwangsverwaltung von Bezirken bis hin zu Ausbürgerungsgesetzen und Fernsehprogrammen wurden eine Menge Änderungen vorgenommen.
Instrument der Entledigung
Zu Beginn argumentierte die Regierung, die Notstandsdekrete würden zur Beseitigung von Überresten “paralleler Strukturen“ dienen. Sie richteten sich jedoch ziemlich schnell landesweit gegen “oppositionelle“ Institutionen und wurden zu einem Instrument der Entledigung.
In einer Art Hexenjagd wurden zehntausende Menschen die keinerlei Verbindungen zum Putschversuch oder zur Gülen-Bewegung haben, verhaftet und/oder aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Parallel wurden zivilgesellschaftliche Organisationen kriminalisiert und ihre Mitarbeiter zu “Verrätern“ erklärt. Vor allem solche Organisationen, die sich für die Rechte von anderen einsetzen, wurden mit der Begründung “Mitgliedschaft oder Verbindungen zu einer Terrororganisation“ geschlossen.
Jahrgang 1981, freie Journalistin. Hat an der Universität Ankara Journalistik und Kommunikationswissenschaft studiert. Ihre journalistische Laufbahn startete sie als Korrespondentin für die Online-Portale soL Haber. Derzeit schreibt sie Reportagen und Portraits für unterschiedliche Nachrichtenportale.
Ein Großteil der zivilgesellschaftlichen Organisationen wurde mit dem am 22. November 2016 erlassenen Notstandsdekret Nr. 677 dichtgemacht, darunter auch die Vereine “Gündem Çocuk“ und “Van Kadin Derneği (VAKAD)“, die sich für Kinder- und Frauenrechte engagieren. Die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Vereine sind sich einig, dass von Tausenden Menschen, die im Ausnahmezustand in ihren Rechten eingeschränkt wurden, besonders Frauen und Kinder betroffen sind.
“Frauen wurden im Stich gelassen“
Der im Jahr 2004 gegründete „Van Frauenverein“ war hauptsächlich tätig in der Region um die ostanatolischen Provinz Van (an der türkisch-iranischen Grenze, Anm.d.Red.) und hat bisher mehrere Tausend Frauen erreicht. Als Mitglied nationaler und internationaler Netzwerke setzt der Verein in Kooperation mit diesen diverse Projekte um.
Er bietet juristische, ökonomische, psychologische und soziale Beratung für Frauen an, die von Gewalt betroffen sind. Darüber hinaus auch Kurse zur Alphabetisierung, Publikationen über Frauenrechte, sowie Bildungsstipendien für Mädchen.
Nach dem verheerenden Erdbeben in der Provinz Van im Oktober 2011 eröffnete der Verein zudem ein Frauen- und Kinderzentrum und biete in seinem Frauenhaus, das vor sieben Jahren eröffnet wurde, auch Platz für Geflüchtete.
Ungerechte Verleumdung
“Als die Vollzugsbeamten an unsere Türen klopfte, wurde unser Verein ohne Erklärung geschlossen.“, erinnert sich Zozan Özgökçe, feministische Aktivistin und Gründerin von VAKAD.
Es sei nicht nur ungerecht, sondern auch eine Verleumdung einen Verein, der sich als antimilitaristische Organisation versteht, mit Verbindungen zu einer bewaffneten terroristischen Organisation zu beschuldigen. Der Beschluss zur Schließung würde die Frauen übergehen und in Anbetracht ihrer Arbeit feministische Errungenschaften weltweit ignorieren.
“Das ist pure Frauenfeindlichkeit. Sie versuchen uns zum Schweigen zu bringen, in dem sie uns die rechtliche Grundlage für eine Organisierung nehmen“, so Özgökçe. Mit der Schließung ihres Vereins wurden viele der Aktivitäten eingestellt. Dabei hatten sie geplant, in den kommenden drei Jahren ihre Zielgruppe auf 8.000 Frauen auszuweiten.
Teil der Gesamtstrategie gegen Opposition
Eine weitere NGO, die dem Notstandsdekret Nr. 677 seine Stilllegung verdankt, ist die Organisation „Gündem Çocuk Derneği“. Sie wurde 2005 unter dem Motto “Kinderrechte sind politisch“ von Jurist*innen, Akademiker*innen, Sozialarbeiter*innen, Kommunikationsexpert*innen und anderen Aktivist*innen gegründet. Der Verein betrieb verschiedene Projekte zur Stärkung von Kinderrechten und arbeitete hierfür mit Eltern, Universitäten und diversen staatlichen Einrichtungen zusammen.
Die Schließungen durch Notstandsdekrete seien nicht zu trennen von den Repressionen gegen Journalist*innen und Akademiker*innen, erklärt Vereinsmitglied Ezgi Koman. “Mit uns wurden viele zivilgesellschaftliche Organisationen dichtgemacht, wahrscheinlich ist das ein Teil der Gesamtstrategie“, vermutet Koman. Der Verein hatte nicht mit einer Schließung gerechnet und weiß bis heute nicht, was ihnen vorgeworfen wird.
Widersprüchliche Strafverfolgung
In diesem Zusammenhang verweist Koman auch auf die Widersprüchlichkeit der aktuellen Strafverfolgung: “Vor unserer Schließung wurden wir auf Beschwerde des Generalstabs einer Überprüfung unterzogen. Doch die Soldaten, die die Beschwerde gegen uns eingereicht hatten, sind derzeit wegen Mitgliedschaft in der FETÖ verhaftet.“
Die Stilllegung des Vereins stelle einen Rückschritt im Bereich der Kinderrechte dar. Dabei gebe es gerade in diesen Tagen einiges zu tun: “Wir könnten die Auswirkungen des Ausnahmezustands auf die Situation von Kindern dokumentieren, Maßnahmen dagegen entwickeln und der Regierung Lösungsvorschläge präsentieren.“, so Koman.
Arbeit auf Videoplattform verlegt
Stattdessen musste die NGO ihre Hilfe einstellen, so auch in einigen Gerichtsprozessen, die sie begleitet. Unter den Prozessen, die nicht weiterverfolgt werden können, befindet sich etwa der Widerspruch gegen eine Familie, deren Kind sexuell missbraucht wurde und die es zwang, den Täter zu heiraten. Außerdem der Fall des 13-jährigen Ahmet Yıldız, der in der Plastikfabrik, in der er arbeitete, in die Presse geriet und starb.
Seit ihrer Schließung kann der Verein “Gündem Çocuk Derneği“ zwar nicht mehr als zivilgesellschaftliche Organisation an den Gerichtsprozessen teilnehmen, hat aber vor wenigen Tagen begonnen, seine Arbeit auf der Videoplattform medyascope.tv zu dokumentieren. Auf diese Weise führt die NGO ihre Arbeit fort und erinnert die Öffentlichkeit an Verstöße gegen die Rechte von Kindern.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!