SCHICKE BRILLEN, LEDERJACKEN, HELLES HOLZ UND SCHLICHTE MÖBELAGE : Zierelemente im Trendgebiet Southwest of Sonnenallee
VON MICHAEL BRAKE
Wenn ich Speck hätte, könnte ich Eier mit Speck machen. Wenn ich halt Speck hätte. Habe ich aber nicht, also stelle ich die zwei Spiegeleier mit Schwarzbrot als Grundlage für den Freitagabend in mich hinein. Aus dem Innenhof kommen Tischfußballgeräusche, und ich bin kurz verwirrt, denn der Kickertisch steht doch in meinem Wohnzimmer, und da ist niemand. Oder?
Egal, nach draußen, mit N. soll die südliche Frontier des gentrifizierten Neuköllns erkundet werden: SoWeSo – Southwest of Sonnenallee, wie Kathrin Passig diese Gegend einst taufte. Denn während die Weserstraße auch an Nicht-48-Stunden-Neukölln-Wochenenden einer Ameisenstraße gleicht, kann man hier noch in halbleeren Kneipen rumstehen. Und sogar sitzen!
Erste Station: Das Gift, das irgendwem von Mogwai gehört und allgemein ein wenig britisch ist, zumindest der Akzent des Barpersonals, die Snacks (Salt+Vinegar-Chips), die Drinks (mit Gurke) und die Selbstverständlichkeit eines breiten Whiskyangebots, das deswegen in der Karte nur mit „Schottischer“ übertitelt ist. Die einzigen Zierelemente im neonerleuchteten Tresenraum sind ein Baum mit zwei ausgestopften Vögeln und zwei große, stark farbentsättigte Porträtfotos, der Rest ist so rustikal wie bei sämtlichen Bars in SoWeSo: helles Holz und schlichte Möbelage. Wie ein Schullandheim, sagt Y., eine Exkommilitonin, die N. und ich dort treffen. An ihrem Tisch tragen alle schicke Brillen; die Jungs enge T-Shirts, die Mädchen Lederjacken. SoWeSo-Style halt.
Später lassen wir das Broschek und das Peppi Guggenheim links liegen und wechseln ins Valentin Stüberl. Das Stüberl – und das fasst die gegenwärtige Lage Neuköllns ganz gut zusammen –, das Stüberl ist ein Klassiker, denn das gibt es schon drei Jahre. Auch hier ist es rustikal, und wenn ich keine Eier gegessen hätte, könnte ich jetzt Weißwürste mit süßem Senf und Kartoffelsalat essen.
Wir treffen R., der nicht nur N. und mich unabhängig voneinander kennt, sondern auch Y., und natürlich auch „den Peter“, den Y. auch kennt und der das Stüberl betreibt. Der Peter wurde/hatte sich einst von/mit den Leuten vom Ä ausgebootet/zerstritten (nicht Zutreffendes bitte streichen). R. wiederum macht im Stüberl regelmäßig eine Plattenversteigerung und hat hier zudem eine niedliche Dauerinstallation diverser Königssee-Gemälde, alle vom „Malerwinkel“ aus angefertigt, aufgehängt.
N. muss am nächsten Tag zu einem Seminar, wo man als Freelancer Selbstmanagement lernen soll – es findet am Samstag und Sonntag jeweils um 10 Uhr statt, was bei der Zielgruppe eine, sagen wir, lustige Idee ist. Ich vermute, man bekommt sein Zertifikat dafür, dass man einfach pünktlich kommt. Jedenfalls gehen wir deswegen zeitig nach Hause und nehmen uns vor, bald noch weiter an die Nordneuköllner Grenzen zu gehen und SoKaMa zu erkunden: South of Karl-Marx-Straße.
Der Samstag gehört dem Flughafen Tempelhof. Es ist windig, lauwarm, ein endloser Himmel hängt voller weißer und grauer Einzelwolken, und die Grasflächen schimmern in 17 Millionen Schattierungen von Grün, Gelb und Braun. Frisian Summer.
Im Westen wurde auf die untere Landebahn die Plattenvereinigung hingestellt, ein temporärer Eingeschosser-Gebäudemix aus einer Frankfurt/Oderaner Platte und einem Stück Olympischem Dorf aus München. Im Süden entdecken wir die alte Müllverbrennungsanlage der US Army – die Amerikaner verbrannten ihren Müll also auch selbst, so, so, da ist man gar nicht so weit weg von bin Laden in Abottabad. Und im Osten wuseln Dutzende junge Lohas-Familien um selbst gezimmerte, kreuz und quer gestellte Hochbeete, in denen Salat, Kürbisse, Kräuter und Rhabarber wuchern, es wird gezimmert und gesägt, eine fröhliche Schrebergarten-Favela.
Auf dem Rückweg dann die ersten Autofensterdeutschlandfahnen. Es ist WM.