: Zertanzte Diktatoren
Auf Kampnagel erfindet Patricia Carolin Mai die Idee „Tanz-Company“ neu: Statt auf Auslese-Körper und Ballettzuchtmeister setzt sie auf Vielfalt. Ab Juli werden Plätze im Team verlost

Von Charlina Strelow
Zwölf Fäuste. Zwölf Menschen, die sich damit auf die Brust klopfen. Mit den Füßen stampfen. Lärmend rückt die Gruppe immer näher, kratzt an der Komfortzone der vereinzelten Zuschauer:innen. Sie haben etwas Bedrohliches. Das ist gut. Denn es ist ein bedrohliches Thema, mit dem die Workshop-Teilnehmer:innen umzugehen versuchen: die Zensur in den USA, seit Trump wieder regiert.
Dass es den Tänzerinnen gelingt, nach nur anderthalb Stunden so eine Stimmung zu erzeugen, ist keinesfalls selbstverständlich. Es ist der Auftakt der Mai:Company auf dem Hamburger Kampnagel. Mitmachen können hier alle, ganz egal, ob sie Tanzerfahrung mitbringen oder nicht. Das war Gründerin und Choreographin Patricia Carolin Mai wichtig.
Ab September wird sie mit den Interessierten das Stück „Rockoko“ erarbeiten, ab 1. Juli ist es möglich, sich dafür anzumelden. Es soll um die Symbolkraft des Rocks, also des Kleidungsstücks, und seinen Träger:innen gehen. Darum, welche Vorstellungen von Körperlichkeit das Kleidungsstück mit sich bringt – und was passiert, wenn diese aufgebrochen werden. Doch beim Besuch Ende Mai, dem ersten öffentlichen Erscheinen der Company, die sich erst noch bilden wird, geht es darum, die Energie des Projekts zu leben und zu feiern: Mehrere Kreative halten Workshops. Zum Beispiel Liz Rech. Sie ist Regisseurin, Dramaturgin, und selbsternannter Listen-Fan. Denn Listen „bringen Ordnung in den chaotischen Wahnsinn des Alltags“. Sie können helfen, nicht verloren zu gehen, findet sie.
Aber sie können auch genutzt werden, um Menschen absichtlich verloren gehen zu lassen. Rech erinnert an die „Schwarzen Listen“ der NS-Zeit, in denen angeblich „schädliche“ Autor:innen und Werke vermerkt wurden. Dann ruft sie eine im März veröffentlichte Liste der New York Times auf. Aufgezählt sind dort Worte, die seit Trumps Amtseinführung von Regierungsbehörden limitiert oder vermieden werden sollen.
Zu den missliebigen Ausdrücken gehören: Frau, Aktivismus, Behinderung, Geschlechtervielfalt, Rassismus und Opfer. Rech gibt zwei Mikrofone herum, räumt jedem Begriff durch das laute Vorlesen einen kurzen Moment im Scheinwerferlicht ein. Nach dem letzten Wort herrscht kurz Stille.
Dann die Frage: Was löst das bei euch aus? Fassungslosigkeit, bei den meisten. Eine äußert ihre Unsicherheit, ob sie „kotzen oder weinen will“. Das Bedürfnis, zu schreien. Am Gruppenrand boxt jemand in die Luft.
Die Produktion „Rockoko“, die erste der May:Company, soll ab September erarbeitet werden und im Mai 2026 Premiere auf Kampnagel in Hamburg feiern
Die Anmeldung ist möglich zwischen 1. und 6. Juli. Die Plätze werden im Losverfahren vergeben. Alle Infos dazu auf patricia-carolin-mai.de
Die Proben finden ab September jeden Donnerstagabend in Kleingruppen, einmal monatlich im Gesamtensemble statt
Rech selbst ist „fast dankbar“ für die Liste, die „all das versammelt, für das wir kämpfen müssen“. Dazu müssen wir uns wieder in Kollektivität üben, meint sie. Tanz helfe, heterogene Körper zu versammeln.
Deshalb gehen nun alle in sich, welches Wort sie anspricht. Jede:r überlegt sich eine Geste für dieses schutzbedürftige Wort, die präzise und leicht wiederholbar ist. Instinktiv entscheiden sich viele zunächst für sehr große Gesten, scheinen sich mit weit ausgestreckten Armen öffnen und den Raum einnehmen zu wollen. Andere umarmen sich selbst oder sacken in sich zusammen.
Ihre erarbeiteten Gesten stellen die Tänzer:innen im Anschluss in Kleingruppen vor und entwickeln daraus jeweils zu zwölft eine Choreographie. Dann folgen die Auftritte. Untermalt werden sie mit Musik, die unbequem kreischt, als würde sie sich permanent auf einen schrillen Höhepunkt hinarbeiten, der sehr lange nicht eintrifft. Allen Gruppen gelingt es besonders gut, sich auf der gegebenen Bühne auszubreiten. Sie strecken sich und hocken am Boden, nutzen die Wand als Requisite, formatieren sich immer wieder neu. Die menschliche Linie wird zum Dreieck, dann zum Kreis, in dem alle Arme ineinander verschränkt sind.
Patricia Carolin Mai, Company-Gründerin und Choreografin
Einigen ist die Unerfahrenheit doch noch anzumerken, gerade an ihrer Mimik, die verrät, wie sehr sie sich auf die Schrittabfolge konzentrieren. Der Wirkung als Gruppe schadet das kaum. Man spürt, das für die Teilnehmer:innen etwas Starkes entsteht.
Nach dem Workshop bedanken sich viele bei Rech. Die Gruppe scheint in den zwei Stunden zusammengewachsen zu sein. Darin sieht auch Patricia Carolin Mai Potenzial: „Es braucht dringend mehr Räume, wo Menschen merken, dass sie nicht verloren, nicht allein sind“.

Für alle, die sich auch nach dem Workshop noch verloren und wütend fühlen, will Liz Rech im Flur gemeinsam schreien. Wer vor dem Schreien an sein Lieblingsessen denkt und mehrmals „jam jam jam“ wiederholt, entspanne sein Zwerchfell und könne den Frust gesünder heraus lassen. Kurz lacht die Kleingruppe über die etwas alberne Übung, dann schreien sie. Es fühlt sich lang an.
Eine der Mitschreierinnen ist Michelle, die sich für eine Geste zu „Vielfalt und Gerechtigkeit“ entschieden hat. Mitgeschrien hat sie, weil sie zu Beginn des Workshops „fast weinen musste“. Schreien sei ihr dann doch besser vorgekommen. Aber auch wer nicht schreien mag, ist herzlich eingeladen, ab September mitzutanzen. Auch hier gilt: Alle sind willkommen. Mai will eine „fluide“ Company schaffen, in der mehr Rücksicht auf die Bedürfnisse und Lebensumstände der Teilnehmer:innen genommen wird.
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