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ZeitgeistWie tickt die Türkei?

Häuslebauer, anatolische Tiger und Islamisten - der Istanbuler Stadtforscher Orhan Esen erläutert, was die Wahl von Abdullah Gül zum türkischen Präsidenten wirklich zu bedeuten hat.

Auch in diesen zeiten ist ist der Staatsgründer Kemal Atatürk stets präsent Bild: dpa

VON ANTONIA HERRSCHER UND HELMUT HÖGE

In der Abenddämmerung kam ein Mann ins Dorf und sagte, er sei der Prophet. Die Bauern aber glaubten ihm nicht. "Beweise es!", forderten sie. Der Mann zeigte auf die gegenüberliegende Festungsmauer und fragte: "Wenn diese Mauer spricht, glaubt ihr mir dann?" "Bei Gott, dann glauben wir dir", riefen sie. Der Mann wandte sich der Mauer zu, streckte die Hand aus und befahl: "Sprich, oh Mauer!" Da begann die Mauer zu sprechen: "Dieser Mann ist kein Prophet. Er täuscht euch. Er ist ein Lügner." (Zülfü Livaneli)

"In den Siebzigern war der Zeitgeist links, heute ist er islamisch", so klingt es, wenn der prominente Liedermacher Zülfü Livaneli sich einen Reim auf die Lage in seiner Heimat zu machen versucht: Nach dem Durchmarsch der islamisch-konservativen Partei AKP bei den Neuwahlen und der anschließenden Wahl des umstrittenen Abdullah Gül zum Präsidenten scheint nichts mehr zu stimmen. Nicht die alten Klischees und Feindbilder. Noch weniger aber die alten Begriffe von links und rechts. Zwar bezichtigten die Islamisten die Laizisten, das Land an die Israelis zu verkaufen, während die Laizisten den Fundis dies in Bezug auf die Saudis unterstellten. Auch wurde die Paranoia vom "Ausverkauf des Landes" vor allem durch die Medien unterstützt und wohl auch geglaubt. Die Wähler aber wollten von dieser Konfliktlinie nichts wissen - und wählten AKP. Warum? Der Soziologe Orhan Esen bemüht sich um Antworten.

taz: Warum haben sich doch so viele angeblich "Polarisierte" in der AKP wiedergefunden?

Orhan Esen: Da die kemalistische Linke in den 70er-Jahren immer weiter von einer linken Position, die sie in den 70ern noch beanspruchen konnte, in eine Identitätspolitik, einer Verteidigung des westlichen Lebensstils rutschte, wurde das von den "Mainstream-Linken" evakuierte Feld der Sozialpolitik erfolgreich von der aufsteigenden islamistischen Politik übernommen. In den 80ern und 90ern fungierte der Islamismus, der vor allem die Lokalpolitik kontrollierte, quasi als eine Ersatz-Linke. Seit 2000 ist es mit den regierenden Postislamisten jedoch grundsätzlich anders bestellt: Während ihre Regionalvertreter noch sozial argumentieren, hat sich die im Sommer 2001 gegründete AKP auf nationaler Ebene zu einer neoliberalen und globalisierungfreundlichen Partei gewandelt. Die politischen Gegenbewegungen bezichtigten die AKP des Islamismus, dies war ein Versuch der CHP, ihnen Wählerstimmen abzuringen. Tatsächlich hat sich die AKP mit ihrer Entbindung von der alt-islamistischen FP (Tugendpartei) als eine pragmatische Zentrumspartei erwiesen, die keinen Sinn für religiöses Eiferertum hat. Der angeeignete neoliberale Diskurs spricht seine Wähler, die man als die neue Mittelklasse mit Migrationshintergrund bezeichnen kann, eher an. So ist die AKP eine postislamistische Partei geworden. Ihr Islamismus bedeutet nun Islamismus nach dem Modell Dubai.

Es war auch von Putsch die Rede. Welches Modell favorisiert denn das türkische Militär?

Das Militär ist eine gut ausgebildete "Kaste". An ihre Spitzen zu gelangen heißt, ein guter Realpolitiker zu sein. Jeder Armeeführer in verantwortlicher Position weiß genau, was es heute bedeutet, zu putschen. Das Milieu der Berufspolitiker dagegen weist in der Regel keine hohe Bildung auf: Nicht selten ist sie etwa durch "Immobilienmakler" dominiert, zumal der jüngste Urbanisierungsprozess auch der wichtigste "driver" der Politik ist. Weitere lokale Machtinhaber wie etwa die Großbauern bilden den Rest. Die zivilpolitischen Eiferer und netzkundigen Desinformanten unter ihnen sind daran interessiert, ihre Horrorszenarien in den virtuellen Raum einzubringen. Das türkischsprachige Netz ist zurzeit cyberspaceweit bestimmt der größte Fundus für Verschwörungstheorien aller Couleur. Nachdem das Militär im April gegen die Aufstellung Güls als Präsident durch ein kurz im Netz aufgetauchtes Pamphlet Stellung bezogen hatte, entwickelt sich rasend schnell eine Protestbewegung: Erstaunlicherweise aber wurde "Weder Moschee noch Kaserne!" zu ihrer Hauptparole. Allein in Izmir gingen 1,5 Millionen Menschen auf die Straße. Mehr als zwei Drittel der Demonstranten waren Frauen, die gegen das Kopftuch protestierten. Ein Teil der Demo-Organisatoren im Hintergrund hoffte sicherlich, dass die Leute als bedrohte Minderheiten auf die Straße gehen würden und sich der Wunsch nach einem Militärputsch äußern würde. Das Militär als Beschützer der bürgerlichen Freiheiten. Dieser Plan ging nicht auf, da sich die Demonstranten als große Mehrheit auf der Straße wiederfanden. In dieser Entwicklung könnte man auch die Geburt einer Demokratie sehen: Durch die Selbstinszenierung einer gerade mündig gewordenen modernen Mittelschicht. Wir reden von einer Kristallisation wie in einem Bürgerkrieg, weil die Zwischentöne fehlen. Diese hätten die rechten Zentrumsparteien zur Verfügung gestellt, aber es gibt sie faktisch nicht mehr. Erdogan hat deren Wählerklientel beerbt.

Der CHP-Wähler und "Hürriyet"-Kolumnist Emin Cösalan räumte selbstkritisch ein: "Wir haben auf einem anderen Planeten gelebt. Wir wissen nichts über diese Gesellschaft. Am Tag der Wahl sind wir mit dem Fallschirm aus einem Raumschiff abgeworfen worden und in einem uns völlig fremden Land gelandet." Haben die Journalisten in der Türkei diese Entwicklung nicht erkannt?

Es gibt in der Türkei zwei "Lager", erkennbar durch ihr Verhalten im öffentlichen Raum als auch durch ihre - nicht zuletzt medial geführte - ideologische Kampfführung. Diese gegensätzlichen Haltungen entspringen jeweils unterschiedlichen historischen Zusammenhängen: Einerseits das der anatolischen Migrantenszene der letzten sechs Jahrzehnte entstammende, um Erhalt ihrer errungenen wirtschaftlichen Positionen bemühte "Post-Gecekondu-Milieu" Man könnte auch "neue Mittelklasse" dazu sagen, die aktuell zu einem mit Neoliberalismus gepaarten Konservatismus scheinbar religiöser Prägung tendiert. Andererseits die überkommende Mittelschicht - sie entstand aus der sich seit den 30er-Jahren auflösenden "Alten Elite" Istanbuls, deren Attitüde ich als "Nordistanbulertum" bezeichnen würde. Diese ältere Mittelschicht hat ihre Wurzeln in der Frühmoderne, in der Verwestlichung des 19. Jahrhunderts, und nimmt für sich ein Monopol für das Attribut "zivilisiert" gerne in Anspruch. Jedoch mussten immer mehr Kreise darin in den 90er-Jahren beinahe tatenlos zusehen, wie sie ihre sicher geglaubten gesellschaftlich-ökonomischen Positionen an die agileren Neueinwanderer verloren.

Die Meinungsmacher hielten aber der älteren Mittelschicht anscheinend weiter die Stange.

Als im Sommer 2005 nach einer Unterbrechung (aus Umweltgründen) von mehreren Jahrzehnten die Strände Istanbuls wiedereröffnet wurden, geschah genau das, was die Cumhurriyet bereits in den 30er-Jahren in folgenden Worten auf den Punkt brachte: "Das Volk erstürmte die Strände, die Bürger konnten nicht baden."

Sie sind aber baden gegangen, weil das Wählerpotenzial der AKP sie wegschwemmte. Aus welchen Schichten setzt es sich zusammen?

Das ist erstens in den Großstädten die neue aufsteigende Mittelschicht mit Migrationshintergrund. Diese Leute sind vom Land in die Stadt eingewandert und aus Landbesetzern wurden Besitzer. Den sozialen Aufstieg durch den Bildungsweg ersetzten sie durch die Strategie des konservativen Selfmademan. Sie fühlen sich durch die alte, westlich orientierte, sich mondän gebende, gebildete Mittelschicht verhöhnt. Zweitens sind das bäuerliche und kleinstädtische Gruppen, hauptsächlich im Osten und im Norden, die sich eher der muslimischen Gemeinde zuordnen. Und drittens die anatolischen Tiger: Unternehmer Anatoliens, Vertreter eines "protestantischen Islam". Ihre Wirtschaftskraft basiert auf den Ersparnissen, die die in die Städte abgewanderte und ausgewanderte Bevölkerung zurückgeführt hat. Sie ist asketisch und akkumulationsbewusst. Man könnte glatt von einem schwäbischen Islam sprechen. Zusammen genommen eine stille Mehrheit von Zentrumswählern. Sie haben sich von der Propaganda, die AKP sei fundamentalistisch, nicht einschüchtern lassen, und die Absurdität solcher Thesen erkannt. Der neue Zentrums-Wähler ist auch nicht abgeschreckt von der "Drohung" der Globalisierung. Diese wird als ein Prozess verstanden, von dem die Türkei und sie selbst profitieren können. Der Glaube an den Neoliberalismus kam gestärkt aus den Urnen. Der AKP-Wähler sieht sich auf der potenziellen Gewinnerseite. Und dabei ist wichtig: Trotz aller Fehler europäischer Politiker bleibt man europäisch.

Orhan Esen, Istanbuler Stadtforscher, studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Er ist Co-Autor und Mitherausgeber (mit Stephan Lanz) des Buches "Istanbul: Self Service City", Berlin 2005, und Mitglied im BIN (berlin-istanbul-network. Er ist in Istanbul als Reiseleiter und Veranstalter von akademischen Bildungsreisen tätig.

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