Zeit für die Wirklichkeit: Lernen von den Kids

Fridays for Future zeigen, dass die Kinder heute die Realisten sind und die Erwachsenen die Illusionisten. Werdet endlich erwachsen, Erwachsene!

Bild: NASA, ESA and A. Nota (STScI/ESA)

von Harald Welzer

Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, hat Ingeborg Bachmann gesagt. Unser Kulturmodell verdankt sich der Aufklärung, mithin der Entmythologisierung der Welt, zugunsten von naturwissenschaftlicher Erkenntnis und empirischer Tatsachenfeststellung. Unsere Gegenwartsgesellschaft behauptet demgemäß sogar, eine »Wissensgesellschaft« zu sein, also auf der Grundlage von Wissen zu handeln und zu planen. Naja.

Würde man tatsächlich wissensbasiert handeln, hätte man längst erfolgreich Treibhausgasemissionen reduziert – das Wissen über die Ursachen des Klimawandels ist seit Jahrzehnten vorhanden. Würde man wissensbasiert handeln, hätte man schon längst auf eine Landwirtschaft umgestellt, die Natur- und Lebensräume nicht großflächig ruiniert, und auch schon vor Jahrzehnten die rasante Flächenversiegelung gestoppt.

Würde man wissensbasiert handeln, gäbe es gewiss weder Größenzuwachs bei Autos noch Kreuzfahrtschiffe, subventionierte Luftfahrt oder Andreas Scheuer als Verkehrsminister. Genauso wenig würde man energie- und strahlungsintensive Infrastrukturen wie 5G installieren und die Verletzlichkeit der Gesellschaft radikal erhöhen, sondern zusehen, dass man widerstandsfähige Versorgungsinfrastrukturen schafft, die krisenresistent sind und autark funktionieren.

Dieser Beitrag stammt aus taz FUTURZWEI N°10

Macht man aber alles nicht, sondern das exakte Gegenteil: Jedes Jahr ein neues Rekordjahr im Ressourcenverbrauch, in den CO2-Emissionen, in den Absatzzahlen von SUVs, im Expansivtourismus. Warum aber dann eigentlich die Aufregung über die Dauerproduktion sogenannter alternativer Fakten durch die Trump-Administration oder den Stuss der AfD in Sachen CO2, Klimawandel usw.? Sind wir, die Guten, denn eigentlich wahrheitsliebender, wenn wir Jahr für Jahr – bei steigenden Emissionsmengen – mitteilen, dass ein Einbremsen der Erderhitzung bei 1,5 Grad Steigerung »immer noch« möglich ist (dazu müsste ja nur die komplette Weltwirtschaft kurz umgestellt werden). Oder entspricht es irgendeiner »Wahrheit« zu sagen, Rechtsextremismus sei kein ostdeutsches Problem, wenn in Ostdeutschland die AfD zur dominierenden politischen Kraft zu werden droht, und zwar nicht trotz, sondern wegen Höcke?

Selbstdienlichen Geschichten

Man könnte jetzt eine Menge solcher alternativer Fakten aufzählen, die auch in unserem ökoliberalversifften Spektrum ungefragt weitergereicht werden, aber bitte: Welchen Realitätsgehalt hat denn die Mitteilung, dass man eine globalisierte Wirtschaft rechtzeitig auf einen Pfadwechsel hin zur Nachhaltigkeit bringen könne, wenn das seit 1972, dem Erscheinungsjahr der Grenzen des Wachstums, nicht geschehen ist? Wie lange mag man sich gegenseitig noch erzählen, dass die Digitalisierung bei der Energieeinsparung hilft und gesellschaftliche Teilhabe erhöht? Oder dass »europäische Werte« noch irgendeinen Nennwert haben, wenn die Flüchtlingspolitik so ist, wie sie ist? Liefern wir solche selbstdienlichen Geschichten immer wieder ab, um nicht anerkennen zu müssen, dass das Verfallsdatum unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells längst überzogen ist?

Der Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke hat schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass Gesellschaften unseres Typs für die permanente Erzeugung von Wachstum nicht mehr nur räumlich expandieren, sondern auch in die Zeit, und somit Kredite aufnehmen, die sie nie zurückzahlen werden. Also buchstäblich Zukunft vor der Zeit verbrauchen und gewissermaßen über das Verfallsdatum von Substanz und Wissen hinaus – einfach weitermachen.

Aber der Epochenbruch 1989 hat ja genau gezeigt, was geschieht, wenn Gesellschaftssysteme über ihr funktionales Verfallsdatum hinaus business as usual machen und sich nicht modernisieren. Irgendwann, zwei, drei Jahrzehnte nach Überdehnung der materiellen, kulturellen und sozialen Grundlage bricht der bis dahin mühsam zusammengehaltene Schuppen einfach zusammen, not with a bang, sondern wie ein Ballon, dem alle Luft entwichen ist. Oder stürzt ab, um ein anderes Bild zu gebrauchen, wie die Zeichentrickfiguren, die in wilder Flucht längst über die Klippe hinausgelaufen sind und erst nach vielen Metern auf gerader Linie in der Luft merken, dass sie keinen Boden mehr unter den Füßen haben.

Harald Welzer ist Herausgeber von taz FUTURZWEI Bild: Hermann Bredehorst/Polaris/laif

Der Illusion den Vorzug geben

All das ist nicht erst seit gestern zu bemerken, aber in stillschweigendem Einverständnis scheinen sich fast alle darauf geeinigt zu haben, dass es besser ist, der Wirklichkeit eher nicht ins Auge zu sehen und der Illusion den Vorzug zu geben. Ist das anders als in der DDR, wo man die Überlegenheit des Sozialismus jeden Tag gefeiert hat, obwohl das System schon komplett erodiert war? Kommen wir, anders gesagt, in eine wünsch- und gestaltbare Zukunft, wenn wir uns jeweils mit der halben Wahrheit begnügen – mehr Emissionen, mehr sterbende Arten, mehr Flüchtlinge, mehr Rechte, mehr Autoritarismus, soweit reicht die Wahrheit schon. Nur die zweite Hälfte fehlt: Das Leben wird sehr anders sein, wenn wir uns zumuten, das alles ernst zu nehmen.

Müssen wir nicht endlich unsere Lebenslügen ähnlich unter den Verdacht selbstdienlicher Fake News stellen wie die der Wachstumsgläubigen und Klimaleugner, und der Komplettverschrateten von ganz rechts? Genau das ist ja die Wahrheit, die die Fridays for Future der Politik zumuten, wenn sie sagen, es müsse endlich das Notwendige getan werden (und nicht alles andere). Damit sind wir ja in der historisch durchaus bemerkenswerten Situation, dass heute die Kinder und Jugendlichen die Realisten sind und wissensbasiert handeln und die Erwachsenen die Illusionisten, die jeden Bezug zur ihrer Wirklichkeit verloren haben. Und was folgt daraus?

Die Aufforderung lautet, nun endlich auch erwachsen zu werden, also sich selbst zu glauben, was man zu wissen vorgibt und dann das Notwendige zu tun. Keine Gründe zur Beruhigung finden. Aufhören, das Setzen von Zielen mit Taten zu verwechseln, aufhören damit, erstmal die Abschaffung des Kapitalismus, die Befreiung des globalen Südens, die Beseitigung von Fluchtursachen und ähnlich magische Dinge zu fordern, bevor man sofort, umstandslos, jetzt Dinge anders zu machen beginnt. Sich selbst und die Politik unter Druck setzen, protestieren, zivilen Ungehorsam ausprobieren. Lernen von den Kids.

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