: Zeichnet sich Dissidenz ab?
betr.: „Lasst ihnen ihren Protest“, Interview mit Prof. Klaus Hurrelmann (Mitherausgeber des Shell-Jugendreport 2002), taz vom 1. 4. 03
In Ihrem Interview sagen Sie (durch die Shell-Studie bestätigt), dass das Interesse der Jugendlichen für die etablierte Politik, für Parlament und Parteien eher klein ist. Sie bringen das mit egotaktischem Verhalten (das sich ändert, wenn es um punktuelle Ereignisse geht, die emotional ansprechen – wie eben der Krieg) in Zusammenhang. Ich möchte noch eine andere Erklärung zu bedenken geben.
Nämlich, dass die Jugendlichen direkt, subtil oder intuitiv wahrnehmen, dass unsere „Demokratie“ so eng mit patriarchalen und kapitalistischen Strukturen verwoben ist, dass man genausogut sagen könnte, dass wir in einer Diktatur von Macht, Herrschaft und Geld leben. Könnte es sein, dass die Jugendlichen ebenso (möglicherweise intuitiv) erkennen, dass aus genannten Gründen der Versuch, innerhalb des Systems etwas zu ändern, sinnlos ist? Vielleicht haben Jugendliche in dieser Hinsicht eine ausgeprägtere Wahrnehmung als Erwachsene (oder sind noch nicht so hypnotisiert oder sucht- oder anderweitig krank). Wenn wir also nicht unbedingt von egotaktischem Verhalten ausgehen, kann das deutliche „Nein“ zum Krieg nicht mehr punktuell gedeutet werden, sondern schlicht natürlich und geistreich.
An anderer Stelle sagen Sie, dass alles, was die Jugend an Lebensstil, an Ausdruck usw. entwickelt, von Eltern imitiert wird, und dass sie eigentlich nichts mehr machen können, um sich abzusetzen. Auch hier möchte ich in eine andere Richtung fragen: Ist es nicht so, dass in unserer kapitalistischen Gesellschaft alles, aber auch alles, sogar jedes Lebensgefühl, vermarktet wird? Ist die Ursache für erschwerte Identitätsfindung nicht auch eher im System zu suchen?
Ich glaube, dass (wenigstens einige) Menschen beginnen zu realisieren, dass unser Produktions- und Konsumzwang armselig, geisttötend, krankmachend und im Grunde lebensfeindlich ist. Vielleicht wird die Generation der heutigen Jugendlichen irgendwann nicht nur hinterfragen, ob sich unser Leben um Profit, Konkurrenz, Rationalität, Perfektionismus, Effiziens, Prinzipien usw. drehen soll, vielleicht wird sie handeln. Es wird wohl nicht zur Revolution kommen, wie Marx dachte. Aber vielleicht zur Dissidenz …? Zeichnet sie sich schon ab? Und vielleicht geht damit eine Geisteshaltung einher, die uns das ermöglicht, was wir wirklich brauchen: gegenseitige Anerkennung, Beziehungen, ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben und letzten Endes Fürsorge und Respekt für alles Leben auf der Erde.
ANKE PIOTROWSKI, Kassel