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Zehn Jahre Intervention in AfghanistanNicht so, wie es sein sollte

Vor zehn Jahren begann die Intervention in Afghanistan. Einiges ist erreicht worden, aber nur Wenige profitieren davon. Und die Gewalt eskaliert. Eine Bilanz.

Angestellte im Gesundheitsministerium telefonieren während eines Feuergefechts in der Innenstadt von Kabul mit ihren Familien. Bild: dapd

KABUL taz | Soraya Sobhrang kann man nicht vorwerfen, dass sie zur Gilde der Schwarzmaler zählt. Kein Wunder: Die Ärztin, die 2006 beinahe Afghanistans Frauenministerin geworden wäre, kann sich nicht erlauben, ihr Land aufzugeben.

Seit ihrer Rückkehr aus mehrjährigem Exil während der Talibanherrschaft, darunter drei Jahre lang in Deutschland, hat sie sich an prominenter Stelle – und das heißt in Afghanistan auch immer unter Lebensgefahr – engagiert. Vier Jahre lang war sie Vizeministerin für Frauenfragen, dann wechselte sie in die Unabhängige Menschenrechtskommission (AIHRC) des Landes.

"Seit dem Sturz der Taliban hat sich die Lage völlig verändert", sagte die Mittfünfzigerin in ihrem Büro im Westen Kabuls. "Wir haben viel erreicht, davor kann man die Augen nicht verschließen: unsere Verfassung, das Wachstum der Zivilgesellschaft, die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, die Entwicklung des privaten Sektors, die Wiedereröffnung der Schulen und Universitäten. Es gibt sogar Beispiele für positive Diskriminierung, um die Rolle der Frauen zu stärken. Wir haben ein gesetzliches Verbot von Gewalt gegen Frauen durchgesetzt. Es gibt Frauenhäuser. Verfassungsartikel 22 besagt, dass Mann und Frau vor dem Gesetz gleich sind. Aber wir sind nicht damit zufrieden, dass es im Vergleich zu früher zwar viel besser geworden ist, aber noch lange nicht so ist, wie es sein sollte."

7. Oktober 2001

Knapp vier Wochen nach den Terroranschlägen von New York und Washington haben die USA und Großbritannien in der Nacht vom 7. Oktober 2001 Afghanistan angegriffen. Bereits zuvor hatte die Nato erstmals in ihrer Geschichte den Bündnisfall ausgerufen. Kurz nach dem 11. September hatten die USA Osama bin Laden als Verantwortlichen für die Terroranschläge ausgemacht und von den Taliban vergeblich seine Auslieferung verlangt. Der Militäreinsatz wurde zunächst "Operation Infinite Justice" genannt und bald in "Operation Enduring Freedom" umgetauft. Die von den USA bis heute geführte Militärintervention von mehr als 40 Staaten dauert an. Ziele der Luftangriffe waren zunächst Stellungen des Taliban-Regimes bei Kabul, Kandahar und Dschalalabad sowie mutmaßliche Lager des Terrornetzwerkes al-Qaida. In Folge der Angriffe konnte die gegen die Taliban kämpfende Nordallianz vorrücken und bei nur geringem Einsatz von US-Bodentruppen am 13. November 2001 Kabul kampflos einnehmen. Im Dezember war das Taliban-Regime besiegt. Bei der Konferenz auf dem Bonner Petersberg wurden die Weichen für Afghanistans Zukunft gestellt. (han)

Sobhrangs Statement ist differenzierter als das Käßmannsche Diktum, nichts sei gut in Afghanistan. Diese Differenzierung ist es auch, die ihre Bilanz von den Reden vieler Politiker und Diplomaten unterscheidet, die sich und ihre Wähler davon zu überzeugen versuchen, dass die zehn Jahre Afghanistan-Intervention zwar schwierig, aber erfolgreich waren. Damit wollen sie den für 2014 angekündigten Rückzug des Westens rechtfertigen.

Schmiergeld für die Schule

Aber diese Art von Erfolgsbilanz ist oberflächlich: Fast acht Millionen Kinder gehen zur Schule. 90 Prozent des Landes haben eine Gesundheitsversorgung. Es herrsche eine in der Region beispiellose Pressefreiheit.

Stimmt: 2,4 Millionen afghanische Mädchen besuchen heute eine Schule, 480-mal mehr als unter den Taliban. Trotzdem sind es weit weniger Mädchen als Jungen, und 22 Prozent der Mädchen gelten laut Oxfam als "permanent abwesend" in der Schule. "Es wird nicht gesagt, wie viele Kinder nicht zur Schule gehen", sagt Sobhrang. "Und wie viele Kinder beenden die Schule? Die meisten schaffen es nur bis zur vierten Klasse."

Schüler müssen ihre Lehrer schmieren, um durch Prüfungen zu kommen, Studenten Kommissionen, um zur Universität zugelassen zu werden. Viele Lehrer haben Zweitjobs, weil ihre Familien nicht vom mageren Monatsgehalt von umgerechnet 120 Dollar leben können, und fehlen während des Unterrichts. Erst Ende 2009 wurde auf Bezahlung nach Leistung umgestellt - Topgehalt: 428 Dollar.

Die Hälfte der 12.000 afghanischen Schulen besitzt kein Gebäude. In den Dörfern wird nach wie vor oft unter Bäumen oder in provisorischen Zelten unterrichtet.

Auswendiglernen ist die Regel, kritisch zu fragen steht nicht im Lehrplan. Gute Bildung gibt es nur gegen Geld, an Privatschulen und der Amerikanischen Universität in Kabul, die mit ihren hohen Gehältern gute Lehrkräfte von den staatlichen Hochschulen abzieht. "Bildung bleibt nur für privilegierte Afghanen", resümiert die junge Frauenaktivistin Noorjahan Akbar in ihrem Blog.

Für eine Revolte fehlt der klare Feind

Nach der Schule oder Universität fehlt es den jungen Menschen an Jobmöglichkeiten. Geld oder Beziehungen gehen vor Qualifikation. In gut ausgebildeten Absolventen sehen die Staatsbürokraten, die ihren Schreibtisch oft mit der Kalaschnikow errungen und ihren Jobanspruch mit der Teilnahme am Anti-Taliban-Kampf legitimieren, eine gefährliche Konkurrenz. Das ist so ähnlich wie in den arabischen Ländern, wo dieser Umstand zur Revolte beigetragen hat. Aber einer ähnlichen Entwicklung steht in Afghanistan - noch? - entgegen, dass es keinen klaren Feind gibt. Karsai ist nicht Mubarak, und die Warlords sind mal für, mal gegen ihn.

Nicht zuletzt hat die militärische Eskalation, ausgelöst durch Obamas Truppenverstärkung Anfang 2009, weitere Fortschritte untergraben. Viele Familien verzichten darauf, ihre Kinder oder Frauen auf den oft langen Weg zur Schule oder in die Klinik zu schicken. Und in den meisten Dorfkliniken fehlt es an Medikamenten und Personal, das in der ständigen Gefahr zwischen Taliban und US-Soldaten leben will.

Und was die Pressefreiheit angeht: Einschüchterung von Journalisten und Repressalien gegen sie sind an der Tagesordnung. Zu Ministern avancierte Warlords schicken Reportern ihre Schläger ins Haus, wenn sie Namen nennen, oder überziehen sie mit Prozessen wegen "Blasphemie". Darauf steht die Todesstrafe, und wehren kann man sich kaum. Das Resultat sind weite politische Tabuzonen und Selbstzensur. Unter Karsai sind die Mullahs wieder zur letzten Instanz geworden.

Eine Ausnahme sind die vielen Phone-in-Programme, wo Afghanen aus dem ganzen Land unter dem Schutz von Anonymität Klartext reden. Aber mehr und mehr Zeitungen, Fernseh- und Radiosender gehören den Warlords selbst, die sie aus nicht legalen Zuschüssen interessierter Nachbarländer oder dem Drogenhandel finanzieren. Dort wird nur Parteilinie gesendet. Die unabhängigen Medien kämpfen währenddessen finanziell ums Überleben.

So spricht Soraya Sobhrang aus, was all die Obamas, Ban Ki Moons und Westerwelles nicht sagen, obwohl sie es wissen: Die neuen, besseren Gesetze, die die seit 2001 erreichten Fortschritte garantieren sollen, "stehen häufig nur auf dem Papier".

Auch viele der ursprünglichen Ziele der Afghanistan-Intervention wurden nicht erreicht. Es herrscht kein Frieden, sondern die Gewalt ist eskaliert. Der Kampf gegen al-Qaida hat die Taliban gestärkt, und es dauerte fast zehn Jahre, bis bin Laden gefunden wurde.

Hilfsgelder versickern

Ein Großteil der internationalen Hilfsmilliarden versickert in korrupten Kanälen oder fließt zurück in die "Geber"-Länder. Das recht erhebliche Wirtschaftswachstum Afghanistans kam vorwiegend den Korruptionsgewinnern zugute, die mit ihren Positionen in Regierung, Wirtschaft und bewaffneten Kräften inzwischen eine veritable Oligarchie bilden, die, weil unsicher im Sattel, gefährlich ist. Die Gewaltenteilung steht nur auf dem Papier. Währenddessen vertieft sich die soziale Kluft. Die Lebensumstände vieler - auf dem Lande und an den Stadträndern - grenzen weiterhin an das Unzumutbare.

Afghanistans staatliche Institutionen sind politisch wie fiskalisch alles andere als nachhaltig und scheren sich meist einen Kehricht um Ahmad und Dschamila Normalverbraucher. Vor allem blockiert Karsai seit Längerem bewusst Maßnahmen, die zur Überwindung einiger Probleme beitragen könnten.

Die norwegische Analystin Astri Suhrke sieht Afghanistan nach dem Isaf-Abzug 2014 so: "schwache Institutionen und eine Menge bewaffneter Männer". Und eine desorientierten Jugend, muss man hinzufügen.

Knapp zwei Drittel aller Afghanen sind jünger als 25. Sie oszillieren sozial zwischen Internetaffinität, indischen Seifenopern und konservativ-islamischen, antiwestlichen Emotionen. Gefüttert wird dieser Trend vom zunehmend antiwestlichen Populismus Karsais sowie der Mullahs und Warlords in seiner Umgebung, die es gelernt haben, für alle Fehler den Westen allein verantwortlich zu machen. Allerdings verfügten sie ohne dessen fehlgeleitete und vor dem Fehlschlag stehende Afghanistan-Politik sowie der mangelnden Bereitschaft, aus den Fehlern wirklich Konsequenzen zu ziehen, über viel weniger Argumente.

Unter diesen Vorzeichen sind Karsais Behauptung auf der Münchner Sicherheitskonferenz zu Anfang des Jahres, Afghanistan werde 2015 "ein funktionierender Staat sein", und der zynisch-demonstrative Applaus des Westens dazu ein Skandal.

Thomas Ruttig ist Kodirektor des Afghan Analysts Network (AAN) in Kabul.

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3 Kommentare

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  • W
    Webmarxist

    Die USA und ihre Verbündete aus der Nato wollten mit dem Afghanistan- Krieg folgende Ziele erreichen: Die Taliban vertreiben und dafür die Demokratie einführen und Bin Laden finden. Bei allen diesen Zielen gibt es Mängel: Denn Journalisten werden dort verfolgt und sind Repressalien ausgesetzt. Frauen und Männer sind immer noch nicht gleichberechtigt. Einige Zeitungen sind in den Händen von Warlords die nur Ihre Meinung zulassen und kritische Stimme unterbinden, Das Geld für den Kauf der Zeitungen haben Sie sich durch den Drogenhandel mit dem aus Mohn gewonnenen Opium finanziert. Sie regieren in den ländlichen Provinzen Afghanistans. Im Land gibt es eine antiwestliche Stimmung. Die Taliban sind stärker geworden. Denn die eigentliche Macht im Land hat nicht Karsais Regierung, sondern die Mullahs. Bin Laden war zwar in Afghanistan. Aber entdeckt wurde er in einem Wohnhaus in Pakistan . Der Krieg hat den Westen mehr geschadet als genützt. Kriege lösen keine Probleme. Denn Gewalt erzeugt Gegengewalt. Vielmehr sollten sie die Probleme friedlich lösen und darüber diskutieren. Alle Menschen sind gleich.

  • A
    Andx

    Der wahre Skandal ist, dass Milliarden in Afghanistan verschwendet wurden. Die Hilfsmittel für Schulen, das Gesundheitswesen und die Polizeiausbildung wären in unserem Land wesentlich besser angelegt gewesen.

  • M
    menschenfreund

    Manches ist so simpel, daß viele es nicht begreifen können. Grundlage für ein Vorhaben ist die Analyse. Auf sie baut alles Weitere auf.

    Die Verhältnisse in Afghanistan waren so bekannt, daß man sie als Allgemeingut ansehen mußte. Kurz, und daher unvollständig: Mittelalterliche, vom Islam beeinflußte Herrschaftsstrukturen, Jahrzehnte des Krieges gegen äußere und innere Feinde. Die große Masse des Volkes arm und ohne Bildung, auf dem Land weitgehend abhängig vom Mohnanbau.

    Das zumindest mußte man bei der Entscheidung über Art und Umfang eines Eingreifens wissen und berücksichtigen.

    Im Unterschied zu den Deutschen, die zunächst durchaus richtige Anfangsmaßnahmen ergriffen hatten, interessierte das insbesondere die Amerikaner, wie in all ihren militärischen Aktionen üblich, nicht im geringsten. Motto: Dort ist der Feind, dorthin muß man schießen, bomben u.s.w.

    Weitestehende Entmachtung der Warlords und deren Entwaffnung bei parallel verlaufender Umstrukturierung, insbesondere der Landwirtschaft, weg vom Mohn, hin zur Lebensmittelproduktion bei entsprechender Subventionierung wären ein Beginn gewesen.

    Um die Sicherheit zu gewährleisten und Vertrauen zu gewinnen, wären Streitkräfte mit hinreichender Ausrüstung und robustem Mandat ebenso erforderlich gewesen, wie Aufbau und Schulung einer afghanischen Polizei und Armee.

    Geschickt haben die Taliban sich das brachiale und großenteils fragwürdige Konzept der Amerikaner zunutze gemacht, indem sie Ihre Taktik so ausgerichtet haben, daß bei möglichst vielen ihrer Angriffe auch Zivilisten beeinträchtigt oder gar getötet wurden. Das Resultat ist Zulauf bei den Taliban, selbst durch Leute, die eigentlich nicht an deren Ideologie interessiert waren/sind.

    Lernresistente, arrogante Amerikaner haben zur Verschärfung der Lage beigetragen. Allerdings hatten ihre Truppen hatten zumindest hinreichende und weitgehend richtige Ausstattung sowie ein entsprechendes nationales Mandat.

    Die „Unverantwortlichen“ der deutschen „Parlamentsarmee“ schickten Soldaten/innen mit gefesselten Händen und Füßen (Taschenkarte usw.) sowie einer Ausstattung nach Afghanistan, die nicht im Entferntesten den Notwendigkeiten entsprach.

    So ist Scheitern vorprogrammiert.