Zahl der Infizierten in Mexiko steigt: Erreger im Sündenpfuhl
In Mexikos Grenzstadt Tijuana richtet das H1N1-Virus beträchtlichen Schaden an. Jeden Tag werden nach Schätzungen mittlerweile rund 70 Millionen US-Dollar weniger umgesetzt.
"Shit, its closed!" Bob kann sein Unglück nicht fassen. Dabei hatte sich der Mittdreißiger aus San Diego so auf ein aufregendes Wochenende in Tijuana gefreut. "Ich bin zum Wetten hergekommen. Kentucky Derby, Basketball Playoffs - die Events des Jahres. "Und nun steh ich vor verschlossener Tür, wegen Schweinegrippe", meint Bob verärgert. Dann zieht er weiter, um in einem anderen Wettbüro sein Glück zu versuchen. Seine Chancen stehen ganz gut, denn im Gegensatz zu Mexiko-Stadt gibt es in Tijuana so gut wie keine amtlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Rib-Eye Steaks, Live-Musik, Tequila-Shots und Lap-Dance, alles zu haben.
In Mexiko: ist die Zahl der Patienten, die sich mit dem Schweinegrippevirus infiziert haben, weiter gestiegen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums sind 568 Menschen erkrankt, 22 sind an der Krankheit gestorben. Die Bürger müssten weiterhin versuchen, sich vor dem Virus zu schützen, sagte Gesundheitsminister José Angel Córdova. Gleichzeitig betonte er, es gebe in Mexiko täglich weniger schwere Erkrankungen. "Die Sterberate sinkt", sagte er.
Weltweit: Die Schweinegrippe hat bislang 23 Menschen das Leben gekostet, nach Angaben der WHO und Gesundheitsbehörden sind rund 1.000 Erkrankungen bestätigt, weit über 200 allein in den USA. Die Zahl der bestätigten Schweinegrippe-Erkrankungen in Deutschland hat sich unterdessen auf acht erhöht. Das Robert-Koch-Institut (RKI) bestätigte am Sonntag zwei Fälle in Brandenburg. ap, afp
Auch an den beiden urbanen Grenzübergängen herrscht Hochbetrieb. Autoschlangen stauen sich in Richtung USA; bei der Einreise nach Mexiko werden einige wenige Fahrzeuge zu Routinekontrollen herausgewunken. Nur wer zu Fuß die Grenzschleuse passiert, kommt in Kontakt mit dem mexikanischen Gesundheitsamt, das kurz vor der Drehtür Richtung Tijuana Infomaterial verteilt und sich nach dem Wohlbefinden der Einreisenden erkundigt. "Ich fühl mich wie ein 15-jähriges Schulmädchen", scherzt ein rüstiger Rentner in Kakishorts. Eine Frau mit ihren beiden Kindern im Schlepptau fragt nach Mundschutzen. "Die haben wir hier nicht", entschuldigt sich eine Angestellte des Gesundheitsamts und fügt hinzu: "Aber die sind auch überflüssig. Händewaschen genügt."
Tatsächlich ist die Lage im benachbarten Kalifornien bei bisher 55 registrierten Verdachtsfällen und 17 bestätigten Erkrankungen in Sachen H1N1 deutlich angespannter als im angrenzenden mexikanischen Bundesstaat Baja California, wo gerade mal drei Menschen wegen einer möglichen Infektion stationär behandelt werden. Und dennoch ebben in den USA die Forderungen nicht ab, die Grenze zu schließen, auch deshalb, weil alle bestätigten Todesfälle aus Mexiko stammen, einschließlich des Jungens, den seine Eltern zur Behandlung in ein Krankenhaus nach Texas gebracht hatten. Im US-Senat versuchten sich in der vergangenen Woche sowohl Demokraten als auch Republikaner mit solchen Forderungen zu positionieren. Doch die Leiterin der Heimatschutzbehörde, Janet Neapolitano, sagte No, da es bereits auf beiden Seiten von La Linea Infizierte gebe. "Wer hätte gedacht, dass ich einmal mit Janet einer Meinung wäre", scherzt Christine Moore, Professorin für mexikanische Geschichte an der San Diego State University. "Aber zumindest beim Heimatschutz scheinen sie zu wissen, dass bei einer Schließung der Grenze die US-Wirtschaft noch mehr leiden würde als die mexikanische."
Christine lebt seit 6 Jahren in Tijuana, liebt die 1,3-Millionenstadt und denkt nicht daran, ihr Lächeln Samstagabends hinter einem Mundschutz zu verstecken. Sie ist mit einer Freundin zu einem Konzert verabredet. "Sagen wir, bei tausend gemeldeten Fällen in Tijuana, da würde ich mir schon Gedanken machen. Aber so?" Was sie viel mehr beunruhigt, sind die antimexikanischen Ressentiments, die in der Schweinegrippe ein neues Argument für eine noch restriktivere Überwachung der Grenze gefunden haben. "Ich glaube zwar nicht, dass dieses Spektrum jetzt Zulauf bekommt, aber zumindest Raum, um unverhohlen Rassismus kundzutun."
Zu einer beispielhaften Plattform hat sich in den letzten Tagen der Themenblog der Los Angeles Times entwickelt, in dem Patrioten wie Atavar Andrew schärfere Kontrollen am "Tortillavorhang" fordern, da man schon zu lange "die Müllkippe der Dritten Welt" sei.
Andrews Herz würde sicher höher schlagen, wenn er die Busse der US-amerikanischen Einwanderungsbehörde sehen könnte, die circa alle zwei Stunden hundertfünfzig Illegalisierte nach Mexiko abschieben. Die meisten bleiben jedoch in Tijuana, schälen für 50 Pesos (etwa 2,70 Euro) am Tag Zwiebeln oder waschen Autos für den nächsten Anlauf Richtung Norden. Denn die Coyotes genannten Schleuser kassieren immerhin 1.500 US-Dollar für das Oneway-Ticket durch die Wüste. "Aber im Moment ist es verdammt schwer, durchzukommen", erzählt Dionisio, der nach seiner Abschiebung vor drei Tagen in einer Migrantenherberge in Tijuana untergekommen ist. "Ja, kann schon sein, dass jetzt wegen der Schweinegrippe mehr Grenzpatrouillen unterwegs sind", sagt Dionisio. Erwähnt hätten die US-Behörden aber nichts von der Epidemie, auch selbst weder Handschuhe noch Mundschutz getragen.
Im Casa de Migrantes hat nur der frisch an der Lunge operierte Jorge ein solches Textil ergattern können, als er noch im Krankenhaus lag. Überhaupt wird auf beiden Seiten der Grenze kaum das Tragen eines Atemschutzes propagiert. Das Vermeiden von Hautkontakt und großer Menschenaufläufe sei ausreichend, informieren die lokalen Regierungen. Die tragische Fußnote dieser unverbindlichen Empfehlungen ist die Streichung des Migrantenmarschs am 1. Mai in Tijuana. Aber man wollte das Anliegen und den Ruf der Migranten nicht in Misskredit bringen, erklärt Esmeralda von der Koalition Pro-Migrante die Selbstzensur am Telefon.
Ganz offiziell abgesagt wurden in Tijuana dafür die bereits begonnenen Qualifikationsspiele für die U-17-Weltmeisterschaften im Fußball und ein landesweiter Leistungsvergleich für die Olympischen Spiele. "Wir waren auf Wochen ausgebucht und nun haben wir gerade mal noch ein Dutzend Gäste", ärgert sich Ricardo, Portier eines Fünfsternehotels. Jetzt hofft der junge Mann darauf, dass die mexikanische Regierung die Aussetzung von Großevents am 6. Mai wieder aufheben wird und die Sportveranstaltungen weitergehen werden. Das ist auch in Ricardos persönlichem Interesse, "denn das gesamte Personal arbeitet im Moment nur noch 2 bis 3 Tage die Woche. Den Rest müssen wir als unbezahlten Urlaub abschreiben."
Auf täglich über 70 Millionen US-Dollar schätzt die lokale Handelskammer die täglichen Gewinneinbrüche in Tijuana. In den angrenzenden Städten auf US-Seite dürften sie noch um einiges höher liegen, denn wer in Mexiko Geld hat und etwas auf sich hält, fährt zum Shopping nach Gringolandia. Fernando, Kneipier des Irish Living Pub im Zentrum Tijuanas, traut diesen Zahlen nicht. "Ich denke, da wird viel spekuliert. Bei uns ist es in den letzten Tagen voll wie eh und je", sagt er und nickt in Richtung der verqualmten Bar. Das hat jedoch auch damit zu tun, dass schon seit gut zwei Jahren vermehrt Stammgäste aus der mexikanischen Grenzstadt am Tresen sitzen. Seit die Drogenkartelle anfingen, ihren Verteilungskrieg in die Straßen zu tragen, ist der Tourismus um zwei Drittel zurückgegangen.
Eigentlich müsste Tijuana nun der heimliche Gewinner der Schweinegrippe sein, denn Gewaltverbrechen sollen nach Angaben des Innenministeriums in den letzten Tagen landesweit um 50 Prozent zurückgegangen sein. "Doch die Medien haben das Problem mit der Drogenmafia so aufgeblasen, dass es lange dauern wird, bis die Leute wieder Vertrauen haben, hier ein paar Nächte zu verbringen", sagt Fernando. Er träumt wie der amtierende Bürgermeister Jorge Ramos Hernández von der Regierungspartei Nationale Aktion (PAN) von einem touristischen Korridor jenseits des alten Schmuddelimages von leichter Liebe, korrupter Polizei und einer breiten Palette an Koks und Co. Aber die Gegner dieser Entwicklung meldeten sich letzten Montag zu Wort. Unbekannte erschossen an verschiedenen Orten der Stadt innerhalb von 45 Minuten sieben Verkehrspolizisten und ließen über Polizeifunk verlauten, dass man insgesamt 30 Ordnungshüter beseitigen werde.
Im benachbarten San Diego beunruhigen die Bewohner derweil zwei am Grippevirus erkrankte Marines auf dem Stützpunkt Camp Pendleton. Zudem wurden insgesamt 5.000 Schüler bis Mitte Mai nach Hause geschickt, da Jugendliche von drei staatlichen Schulen als Verdachtsfälle in Krankenhäuser eingeliefert wurden. "Eigentlich sind wir es also, die über eine Grenzschließung nachdenken müssten", scherzt Fernando aus der einst selbsternannten "meistbesuchten Stadt der Welt".
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