ZWISCHEN DEN RILLEN : Große schwere Jungs
The Gaslight Anthem, „American Slang“ (Side One Dummy/Cargo)
Wollte man 2008 mit dem Alternativerock-Zeitgeist per Du sein, gab es an der US-Punkband The Gaslight Anthem kein Vorbeikommen. Ihr Durchbruch war das Album „The ’59 sound“. Die Musik kam einer Einladung auf eine mal ruhige, mal die Höchstgeschwindigkeit ausreizende Reise durch die USA gleich. Man durchfuhr dieses gespaltene Land, seine Einöde wie seine Metropolen, im Zeitraffer von 42 Minuten und erhielt Einblicke in dessen Pathos und Passionen. Am Steuer sang Brian Fallon über seinen „Old White Lincoln“ und dessen „Backseat“, während eine wunderbar altmodische Mixtur aus Punkrock, Folk und Soul aus den alten Boxen strömte. The Gaslight Anthem hinterließen einen Meilenstein am Ende der Strecke.
Nun, zwei Jahre später, erwartet man, dass die Band einen wieder am gleichen Ort aufgabelt und noch einmal mitnimmt, auf eine Spritztour zu bereits bekannten, aber auch zu neuen Weggabelungen. Beim Einsteigen, nach der ersten Wiedersehensfreude, erklärt Fallon im Titelsong „American Slang“ mit leicht vorwurfsvollem Unterton: „Look what you started / I seem to be coming out of my skin / Look what you‘ve forgotten here / The bandages just don’t keep me in“. Da ist jemand offensichtlich auf dem Weg zu neuen Ufern und will die Fesseln der Vergangenheit hinter sich lassen. Ist das wirklich noch die gleiche Mitfahrgelegenheit, die der Anhalter vor zwei Jahren ins Herz geschlossen hat?
Die Perspektive, die Fallon bei seinen neuen Erzählungen über Alltagsleben, Liebe und Leid einnimmt, ist zum einen sehr persönlich, richtet sich gleichzeitig aber auch nach außen und spiegelt seinen Blick auf die Welt. Hier macht sich wohl auch der starke Einfluss von Bruce Springsteen bemerkbar, mit dem zusammen die Gaslichter im Juli 2009 beim weltbekannten Glastonbury Festival in England auftraten. Wie „The Boss“ früher nehmen einen auch The Gaslight Anthem mit zu den kleinen Leuten. Fallon erhebt nicht den Anspruch, deren Stimme zu sein, aber er behält in Erinnerung, dass seine Reise auch einmal als Lehrling in einer Schreinerei in New Brunswick, New Jersey, begann. Mittlerweile hat es Frontmann Fallon zwar nach Brooklyn verschlagen, doch die tätowierten Unterarme mit den Schriftzügen seiner Vergangenheit sind ihm geblieben.
Das neue Album „American Slang“ glorifiziert die Widerstandsfähigkeit, das Fallen und Aufstehen. Sie ist durchzogen von geheiligten Durchhalteparolen, auch wenn der Glaube auf dem steinigen Weg verloren gegangen ist: „There are no reasons to believe / I buried my faith on the block.“ The Gaslight Anthem scheinen gereift, desillusioniert, vielleicht auch ein Stück weit erwachsen geworden zu sein. Gerade deshalb ist es keine Option, liegen zu bleiben, während man in Zweifeln und Selbstmitleid versinkt. Fallons Verse gemahnen geradezu an Albert Camus’ absurden Sisyphos, welcher seinen Felsbrocken bitter lächelnd den steilen Hang hinaufschiebt. Exemplarisch für diese Geisteshaltung steht etwa die rauflustige, mit einem einleitenden Sprechgesang daherkommende Nummer „Boxer“. Auf seinem Weg nach oben intoniert Fallon mit heiserer Stimme seine Lieder, die von einem präzisen Gespür für Eingängigkeit und Eindringlichkeit geprägt sind.
The Gaslight Anthem sind an einem Punkt angelangt, an dem die Hymne zur Gewohnheit wird. Sie schaffen dreiminütige Prototypen der Rockmusik, allesamt voller nachhaltiger Melodiosität. Im Vergleich zum Vorgänger „The ’59 Sound“ ist vielleicht ein wenig Dynamik verloren gegangen, dennoch erheben sich immer wieder aufreibende Gitarrenwände, die mit der Harmonie brechen und an den punkigen Ursprung der Band gemahnen. Alles in allem haben The Gaslight Anthem aber Low-Fi und bewussten Dilettantismus längst hinter sich gelassen und suchen ihren Platz unter den großen der schweren Jungs. Wem hierbei die Punk-Credibility verraten scheint, dem erklärt Fallon in „Old Haunts“ seine Sicht der Dinge: „So don’t sing me your songs about the good times / Those days are gone and you should just let them go.“ Zumindest auf dem langen Weg zum Rock-Olymp sind The Gaslight Anthem mit ihrem Fels ein paar Schritte vorangekommen. TOBIAS NOLTE