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ZUHAUSE DOCH FREMDKurden im europäischen Exil

In den Großstädten Westeuropas sind bedeutende kurdische Exilgemeinden mit einer Vielzahl eigenständiger politischer, sozialer und kultureller Einrichtungen entstanden. Ihre Kultur ist durch die kurdischen Sprachen, eine lange, verbindende Geschichte und einen ausgeprägten Nationalismus im Exil geprägt.  ■ VON JOCHEN BLASCHKE

Die kurdischen Exilgemeinden in Europa haben eine lange Tradition: Mit dem Erwachen des kurdischen Nationalismus und der Öffnung der Region zum Weltmarkt hin gingen Söhne großer Familien in geringer Zahl nicht nur nach Istanbul, sondern auch in die anderen Zentren des Persischen und Osmanischen Reiches. Einige wenige fanden Zuflucht und Studienstätten in Genf, Petersburg, Paris oder London.

Die Kolonien der Deportierten, Flüchtlinge, Studenten und Händler waren klein, bildeten aber ein erstes Glied in der Kette weiterer Emigrationsbewegungen. Diese setzten nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Kinder wohlhabender Familien wurden nach Genf, Paris, London und in die Bundesrepublik Deutschland geschickt, um dort zu studieren. Diese Studenten waren durchweg politisiert und kannten die Mechanismen, mit denen die Staaten des Mittleren Orients ihre Politik der ethnischen Vereinheitlichung und nationalen Integration durchsetzten. Sie nutzen ihre Erfahrungen zu Reflexionen über die Zukunft ihrer Heimatregionen. Plattform dieser Diskussion war eine europaweite Studentenorganisation (KSSE), die 1956 gegründet worden war.

Ein Durchbruch politischer Aktion von Kurden im Exil ist jedoch erst in den sechziger Jahren zu beobachten. Dazu beigetragen hat der zunehmende Optimismus in den politischen Weltbildern der Kurden, der aus einer Identifizierung mit dem wachsenden Widerstand im Irak zu erklären ist. Außerdem wuchs die Zahl der Studenten, die jetzt in starkem Maß mit den Fluchtbewegungen aus dem Irak verbunden waren und politische Arbeit nicht nur als nationalistische Diskussion betrachten konnten. Kurdische Politik verlor das Pathos des puren Nationalismus und konkretisierte sich durch Solidaritätsaktionen für die Widerstandsgruppen und teilweise als Partizipation an den gewaltsamen Ereignissen im Herkunftsland.

In den späteren Phasen der Anwerbung türkischer Arbeiter kamen zunehmend Staatsbürger der Türkischen Republik, die ihrer Sprache und Tradition nach Kurden waren, nach Westdeutschland und in andere Länder Westeuropas. Sie stammten aus ärmeren Schichten der ostanatolischen Bevölkerung und hatten schon häufig einen jahrelangen Aufenthalt in den Großstädten der Westtürkei hinter sich. Der Anteil von Kurden an den Arbeitsmigranten kann nicht präzise angegeben werden. Da aber während der ersten Anwerbungswelle hauptsächlich Arbeiter aus Istanbul, Izmir und Ankara in die Bundesrepublik kamen, ist auch schon für diese Zeit eine hohe Zahl kurdischer Zuwanderer anzunehmen.

In der letzten Welle der Arbeitskräfteanwerbung wurden vorwiegend Frauen rekrutiert, die besonders von der Feinmechanik-, Elektro- und Textilindustrie gesucht wurden. Mit den in den siebziger Jahren nachgezogenen Familienangehörigen, den Studenten sowie den Angehörigen der zweiten und dritten Generation und den Flüchtlingen der achtziger Jahre bilden sie eine ausgeglichene Bevölkerungspyramide, die jedoch nach oben abgeflacht ist.

Die Emigration der Kurden aus ihren Herkunftsgebieten war immer auch Flucht vor Diskriminierung und politischer Verfolgung. Das Studium im Ausland bot eine Gelegenheit, sich der politischen Diskriminierung und Gewalt in den Peripherien der neuen Nationalstaaten für längere Zeit zu entziehen. Die Arbeitsmigranten verbanden die Flucht vor politischer Verfolgung mit der Erwartung auf einen ökonomischen Aufstieg in den sogenannten Wirtschaftswunderländern Westeuropas. Studium und Arbeitsmigration machten für viele eine Erlangung des Flüchtlingsstatus unnötig. Erst die Schließung der westeuropäischen Grenzen für ausländische Arbeitsuchende ließ die Zahl der Flüchtlinge wieder ansteigen.

Das ist nur die eine Seite des Problems. Auf der anderen Seite nahm die Zahl der Flüchtlinge aus den Territorien Kurdistans in den siebziger Jahren schnell zu. Die Bürgerkriegsereignisse im Irak führten zu Ausweisungen großer Bevölkerungsgruppen. Fluchtbewegungen und Deportationen setzen sich bis heute in der Region fort. Die zunehmende Repression in der Türkei und die religiös-chauvinistische Politik im Iran seit Anfang der achtziger Jahre ließen die Flüchtlingszahlen zusätzlich ansteigen.

So spielt der juristische Status der Kurden bis dato eine entscheidende Rolle. Von den Kurden sind circa 30.000 bis 40.000 Personen anerkannte politische Flüchtlinge, De-facto- Flüchtlinge oder Asylbewerber. Das sind zehn Prozent der kurdischen Gesamtbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland. Hinzu kommt die wahrscheinlich 1.000 Personen zählende Gruppe der Studenten und der wenigen Intellektuellen, die als Artikulatoren kurdischen Selbstbewußtseins wichtig sind und die teilweise seit mehr als 25 Jahren im Exil leben.

Das Anwachsen der kurdischen Bevölkerung im Exil war eine Voraussetzung für die Stärkung des Nationalismus in Kurdistan selbst. Von hier gingen Impulse aus, die zum Aufblühen kurdisch-nationalistischer Bewegungen in allen Teilen Kurdistans beitrugen. Im Milieu der ausgewanderten Kurden, unter Studenten und Flüchtlingen, wurde schon früh die Grundlage für eine kurdische Intelligenz gelegt, die später eine systematische politische Artikulation kurdischer Interessen möglich machte.

Kurden gehören heute zum Spektrum des nicht nur durch die nationalen und regionalen Kulturen geprägten multikulturellen Einwanderungskontinents Europa. Kurden identifizieren sich mit Symbolen kurdischer Kultur und mit kurdischnationalistischen Aussagen unterschiedlicher politischer Parteien. Sie artikulieren sich politisch, formulieren so eigene Interessen gegenüber dem Staat und der sozialen Umwelt und haben eine große Anzahl eigenständiger Organisationen im Institutionengeflecht der Staaten Europas entstehen lassen.

Kurden grenzen sich kulturell mehr oder weniger von anderen Bevölkerungsgruppen ab und ziehen so ethnische Grenzen. Vorrangig für ihr Zusammengehörigkeitsgefühl ist die kurdische Sprache, die jedoch unter den Immigranten zumindest problematisiert wird: Die meisten Arbeitsimmigranten sprechen als Muttersprache das besonders in Ostanatolien verbreitete Kurmançi, vor allem im Freundes- und Familienkreis. In der Öffentlichkeit sprechen sie Türkisch oder die Sprache des Gastlandes. Kurmani war auch im Herkunftsland auf den privaten Bereich beschränkt. In der Türkei wird durch den bloßen Gebrauch dieser Sprache der Sprecher kriminalisiert. Darum ist Kurmançi wenig grammatikalisiert und erst auf dem Weg zur Schriftsprache. Es ist nicht zuletzt ein Verdienst kurdischer Intellektueller im Exil, diese Sprache in ihren Organen weiterentwikelt zu haben.

Der kurdische Nationalismus, entstanden im 19. Jahrhundert, lebt bis heute in verschiedenen organisatorischen Formen fort und wurde von den Machteliten der umgebenden Nationalstaaten systematisch unterdrückt. Der Nationalismus der Kurden ist als antikolonialistische Idee besonders virulent; seine Kraft zieht er aber auch aus der Geschichte der Staatlichkeit in der Region Kurdistan. Im Laufe der Jahrhunderte wechselten sich Emirate ab, die politisch unabhängig und von den Herrschern der umgebenden Großreiche als Vertragspartner akzeptiert waren. Die Erfahrung eines eigenen Nationalstaates konnten Kurden während der kurzen Episode der Republik von Mahabad machen. Der kurdische Nationalismus verstärkte sich im Zuge und mit den Erfolgen der vielen Aufstände kurdischer Bauern gegen fremde Herrscher. Der erfolgreiche, aber letztlich verratene Kampf der Kurden des Iraks unter Barzan von 1961 bis 1975 verfestigte nationalistische Ideen der Kurden. Der kurdische Nationalismus gehört seitdem zum kurdischen Selbstverständnis in den Herkunftsländern und im Exil.

Die Ideen gemeinsamer Sprache und Geschichte und die Tradition des kurdischen Nationalismus bilden das Band ethnischer Identifizierungen unter den westeuropäischen Kurden. Hinzu kommen folkloristische Überlieferungen und zunehmend eigenständige kulturelle Aktivitäten, die die politischen Artikulationen verstärken und ergänzen.

Im Milieu kurdischer Arbeitsimmigranten hat sich eine solche Ideologiebildung erst langsam vollzogen. Die erste Generation der kurdischen Zuwanderer hatte die kemalistische Ideologie des „Bergtürkentums“ übernommen und interpretierte ihre türkische Umgebung als kulturell überlegen. So versuchten sie sich der türkischen Öffentlichkeit anzupassen. Sie leugneten ihre kulturelle Andersartigkeit und beschränkten den Gebrauch der Muttersprache auf den Umgang mit Zuwanderern aus der gleichen Region. Sie privatisierten damit die kurdische Kultur und entpolitisierten ihre soziale Lage. Das Kurdische als politisches Ausdrucksmittel blieb kleinen Gruppen von Studenten und Flüchtlingen überlassen.

Erst mit dem Heranwachsen der zweiten und dritten Generation im Exil verbreitete sich ein Selbstbewußtsein, das auf der Wahrnehmung von Symbolen kurdischer Sonderheit beruht. Dieses neue Bewußtsein kurdischer Existenz ist jedoch zwiespältig. Einerseits ist es ein Versuch der Jugendlichen, mit ihren Identitätskrisen fertigzuwerden. Die Hervorhebung kurdischer Symbole aus den Bereichen von Sprache und Folklore, aber auch aus der Religion dient sicherlich zur Abgrenzung von der Welt der Erwachsenen, aber auch zur Abgrenzung von den als fremd erfahrenen türkischen und andersethnischen Bevölkerungsgruppen. Andererseits ist es den Jugendlichen möglich, naiver mit ihrer kurdischen Tradition umzugehen. Im Gegensatz zu ihren Eltern sind für sie die kurdischen Symbole Aspekte der Lebenswelt, wie vieles andere auch. Feste werden mit Traditionalismen und ihren symbolischen Umsetzungen gefeiert. So ist Newroz, das Neujahrsfest, für diese Generation nicht mehr bloß Erinnerung, es ist eine Chance zur sozialen Partizipation. Gleiches gilt auch für Sprachkurse, für Volkstanz- und Musikgruppen, aber auch für politische Organisationen.

Jochen Blaschke ist Direktor des Berliner Instituts für Vergleichende Sozialforschung und Gastprofessor an der Humboldt-Universität.

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