ZU VIEL WÜRZE : Contenanceverlust
Szenen wie jene, die an dieser Stelle normalerweise beschrieben werden, sind die Würze der Großstadtexistenz. Aber drei „Berliner Szenen“ in einer Stunde auf dem Weg zur Bücherei mit den Kindern – das ist ein bisschen viel. Es gibt da so eine Periode im Februar, wenn ganz Berlin genug vom Winter hat und kollektiv die Contenance verliert. Offenbar ist es wieder so weit.
Berliner Szene Nummer eins wäre ganz das Material, aus dem die Texte in dieser Kolumne geschmiedet werden: Ein Mann, der mich an Thilo Sarazzin erinnert, ist in ein Brüll-Match mit dem Sicherheitsmann der Bücherei verstrickt. Offenbar wurde er des Hauses verwiesen. Als er seinem Gegenüber ins Gesicht kreischt, dass dieser aus dem Mund rieche, reicht es dem Pförtner, und der Mann wird schlicht auf die Straße gesetzt. Ich frage mich, was es Unwürdigeres gibt, als aus der Bücherei zu fliegen, und schiebe die Kinder Richtung Buchrückgabe-Automat.
Berliner Szene Nummer zwei – ein schwankender Hüne auf der Weserstraße, der mit Bierflasche in der Hand Verwünschungen ins vorabendliche Dunkel brüllt – kann da nicht ganz mithalten. Interessant höchstens, weil dieser Typus in Nordneukölln inzwischen auf der Liste der aussterbenden Arten steht.
Berliner Szene Nummer drei kündigt sich mit Tatütata auf der Sonnenallee an. Gerade hoffe ich, das Epizentrum des Polizeieinsatzes passiert zu haben, da stolpern wir praktisch über einen Mann, der auf dem Bauch auf dem Pflaster der Jansastraße liegt. Trotz des Polizistenknies im Nacken kann er noch in den Asphalt nuscheln: „Mit meinem Visum ist alles in Ordnung.“
Die Kinder sind begeistert: „Das waren echte Handschellen.“ Ich murmele Staatstragendes über die Rolle der Polizei in unserer Gesellschaft. Und frage mich leise, wie man drei Berliner Szenen in einer Stunde auf die hier übliche Zeilenzahl komprimieren soll. TILMAN BAUMGÄRTEL