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Archiv-Artikel

YOANI SÁNCHEZ POLITIK VON UNTEN Eine Beerdigung, die kein Ende nimmt

In jedem Januar feiert Kuba die Revolution, als gäbe es sie noch. Dabei ist sie schon vor langer Zeit gestorben. Die quälende Frage bleibt dennoch: Haben wir sie getötet?

Genau um Mitternacht des 31. Dezember stürzte ein Wasserfall von jedem Balkon meines Wohnhauses. Es ist Tradition in Kuba, zum Jahreswechsel einen Eimer auszuschütten, um alles Böse der letzten Monate wegzuspülen. So füllte ich den größten Behälter, den ich finden konnte, mit Wasser und ließ es gemeinsam mit meinem Mann aus dem 14. Stock in die Tiefe rauschen, während wir an all das dachten, was wir gern hinter uns lassen wollten. Die erste Morgensonne des Jahres 2011 ließ die Pfützen glänzen, die durch unsere Wünsche entstanden waren.

Es sind nur wenige, die in Kuba laut aussprechen, welche Liste von Hoffnungen sie für die kommenden Monate in sich tragen. Aber das Wort „Revolution“ kommt in den Volkswünschen nicht vor. Die große Mehrheit hält sie schon lange nicht mehr für dynamisch und wandelbar. Eher fühlen sie sich eingezwängt von etwas, über das sie sprechen, wie über eine besonders enge Zwangsjacke, die kaum Raum lässt, sich auf die Realitäten des 21. Jahrhunderts einzustellen.

Dennoch feiert Kuba offiziell an jedem ersten Januar den Geburtstag eines lebendigen Wesens: den der Revolution. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Gedenktag für etwas, das vor langer Zeit gestorben ist. Das soziale Projekt liegt unter der Erde, und wir fragen uns, wann wir den Grabstein aufstellen.

Für Tausende meiner Landsleute starb die Revolution in jenem Jahr 1968, als Fidel Castro die Invasion der sowjetischen Panzer in Prag begrüßte. Für meine Eltern war die Revolution im Frühjahr 1989 zu Ende, als – angeklagt wegen Drogenhandels – der General Arnaldo Ochoa zum Tode verurteilt wurde. Die anschließenden Erschießungen im Innenministerium zeigten überdeutlich, dass Machterhalt nun wichtiger war als das Ideal. Wichtiger als die Bücher über Marxismus und wissenschaftlichen Kommunismus, die sie uns in der Schule gelehrt hatten.

Für meine Generation starb die Revolution mit den Schlägen und Steinwürfen gegen diejenigen, die im August 1994 auf den Straßen Havannas demonstrierten. Mit den primitiven Flößen, die an allen Stellen unsere Insel verließen, gingen auch viele Illusionen darüber, dass es sich hier in Kuba um ein soziales Projekt „vom Volk, durch das Volk und für das Volk“ handele.

Seither ist es die Erinnerung, die bleibt. Sätze wie: „was es hätte sein können und nicht war“, die Idealisierung der Vergangenheit. Gleichzeitig widerlegt die Wirklichkeit jedes Wort, das von den Tribünen gesprochen wird. Es ist eine Beerdigung, die kein Ende findet, in der sich die Angehörigen der Verstorbenen nicht entscheiden können, ihre Schaufel Erde auf den Sarg zu werfen. Einige wenige glauben, dass die ermordete Revolution das Leichentuch abwerfen, ihre Falten glattziehen und die chronischen Krankheiten heilen könnte.

Wir nehmen an dieser Beerdigung teil, und die quälende Frage, was schiefgelaufen ist, lässt uns nicht los. Ab welchem Moment war die Revolution tot? Diese Frage zu beantworten wird für die Zukunft Kubas lebenswichtig sein. Wir wissen schon, dass bei ihrem Sterben Krankheiten wie Personenkult, Bürokratie und Unterordnung eine Rolle spielten. Trotzdem fragen wir uns noch, ob wir selbst den entscheidenden Hieb gesetzt haben, ob es unser Denken und Handeln war, das jenes Wesen erstickte, das wir gedeihen lassen wollten. Oder ob in den Erbanlagen des Prozesses einfach schon immer die Chromosomen des Scheiterns steckten.

Die Autorin lebt als Bloggerin in Havanna Foto: reuters