Würdigen wir die Wegbereiter des Mauerfalls genügend? :
Pro
ANNETT GRÖSCHNER ist Schriftstellerin und lebt in Berlin
Schon die Frage ist entlarvend. Sie hat etwas Herablassendes. Subjekt denkt über Objekt nach, das offenbar nicht mehr so ganz lebendig ist und also reif für ein Denkmal. Und wer ist „wir“? Offenbar gehören die Wegbereiter des Mauerfalls nicht dazu. Sie sind die anderen. Damit hat sich die Frage eigentlich erledigt.
Und auch bei den Wegbereitern muss man sich fragen, wer da überhaupt gemeint ist. Die Leipziger Demonstranten, die auf die Straße gingen, als es noch gefährlich war, und die zu diesem Zeitpunkt an alles andere als an eine Wiedervereinigung dachten? Sind es die Leute, die ab Sommer 1989 den Weg über Ungarn in den Westen wählten und von denen viele eher Wirtschaftsflüchtlinge als glühende Demokraten waren? Oder ist es gar das Politbüro, das über sein Sprachrohr Schabowski am Abend des 9. November 1989 die neuen Reisefreiheiten verkündete?
Was spätestens mit den Kommunalwahlen im Mai 1989 begann und heute unter dem unscharfen Begriff „Bürgerbewegung“ subsumiert wird, hatte nicht den Mauerfall als Ziel vor Augen. Es ging darum, in einem emanzipatorischen Sinne die Gesellschaft zu verändern und die Regierung zu stürzen. Es ist auch die Geschichte einer Niederlage.
Klaus Wolfram hat es in seiner „Geschichte des guten Willens“ vor 15 Jahren beschrieben. Die Macht lag auf der Straße, wir hätten sie nehmen können, aber sie hat uns nicht interessiert. Es war die Anarchie, die uns beglückte. Den Einigungsvertrag unterschrieben auf DDR-Seite dann Leute, die keine Bürgerbewegten waren, sondern handfeste Opportunisten, die den Willen der Mehrheit vollstreckten – Beitritt zu Wohlstand und Freiheit, was wiederum dazu führte, dass die alten Teile der Bundesrepublik weiter stagnieren konnten, sie hatten ja gewonnen.
Anstatt nun ein Denkmal für Einheit und Freiheit in Berlin oder anderswo zu errichten, sollte man lieber gemeinsam die permanent drohende Einschränkung der Freiheit verhindern.
Contra
ILKO-SASCHA KOWALCZUK ist Historiker und freier Autor
Nein, wir würdigen sie nicht nur nicht genug, wir würdigen sie gar nicht. Doch zunächst: Die Mauer fiel nicht. Den Fall hätten jene bewerkstelligen können, die seit 1990 mit Preisen überhäuft werden: Helmut Kohl oder Michail Gorbatschow. Erhielt der eine irgendeine Auszeichnung, durfte sich der andere als Laudator spreizen. Und nicht zu vergessen Günter Schabowski. Zu Orden reichte es bei ihm nicht ganz, aber zur Begnadigung, zum CDU-Wahlkämpfer und zu Huldigungen durch so manche Dissidenten.
Große Männer machen Geschichte – glauben viele. Tatsächlich sind diese den rasanten Entwicklungen genauso hinterhergerannt, wie Hunderttausende aus der Zone wegrannten und andere Hunderttausende zwar auch Freiheit wollten, aber dafür auf die Straßen rannten. Der Flüchtlingsstrom, die Demonstranten und ihre Sprachrohre, die Oppositionellen, erzwangen den Mauerdurchbruch. Schabowskis Pressekonferenz war kein Versehen, sondern der Versuch, Dampf aus dem Kessel abzulassen, um ihn wieder schließen und nach der alten Tagesordnung fortfahren zu können. Gorbatschow war nur der Zauberlehrling, der die Reformen, die er rief, nicht mehr loswurde. Und Kohl war nur der geschickteste Profiteur einer Entwicklung, auf die er nicht einmal nach vier Flaschen Rotwein im Kanzlerbungalow gekommen wäre. Niemand wäre darauf gekommen. Der große Lümmel war die Gesellschaft.
Begraben wir also den Mythos, dass „große Männer“ Geschichte machen. Sie sind immer Getriebene, in diesem Fall von den Gesellschaften Polens und Ungarns, dann auch der DDR. Sie wollten Freiheit. Die Einheit – Deutschlands wie Europas – war das Werk von Politprofis. Dafür können sie sich preisen, sollen sie doch. Aber nicht für die errungene Freiheit. Die führt nie ein Altmännerverein am Reißbrett herbei. Der Mauerfall ist ein zentrales Ergebnis, aber eben nur das Ergebnis des vorausgegangenen gesellschaftlichen Freiheitsstrebens. Ohne Freiheit keine Einheit.