Wühltisch: Erzgebirgische Kleinode
■ Göpfelpyramiden und buntlackierte Kinderfiguren – bitte nicht berühren!
Kerzengeruch wehte aus der Kindheit herüber und verschaffte mir ein schlechtes Gewissen, als ich in einem Kunstgewerbegeschäft im erzgebirgischen Schneeberg vor einer Göpfelpyramide stand.
Bei eben solch einem filigranen Schnitzkunstwerk, dessen Flügelrad, durch den von Kerzen aufsteigenden warmen Luftstrom angetrieben, das auf einer Drehscheibe gruppierte Figurenensemble in Bewegung versetzt, hatte ich vor mehr als 30 Jahren versehentlich eine Holzleiste abgebrochen und den Zorn von Fräulein Bücken auf mich gezogen, einer jungen Lehrerin, die bei uns zur Untermiete wohnte. Das wertvolle Stück war dahin, obwohl man den Schaden äußerlich kaum bemerkte.
In Schneeberg standen gleich mehrere Pyramiden dieser Art im Regal, mit einem mehrfach angebrachten Bittschild, die Spielwaren nicht zu berühren. Die kleinen, buntlackierten Kinderfiguren, pummelige Mädchen mit Zöpfen, große Sonnenblumen vor sich hertragend, kenne ich ebenfalls seit den Kindertagen. Die schönsten Stücke, zusammengehörige Kindergruppen in unterschiedlichen Motiven, waren in einer Glasvitrine in Sicherheit gebracht.
Der Geschäftsführer des Ladens folgte nur unwillig unserer Aufforderung, zwecks näherer Betrachtung aufzuschließen. Beinahe verschreckt reagierte er auf die Frage, wie viele solcher Ensembles er auf Lager habe und welchen Rabatt er bei größerer Abgabe gewähren könne. B., Inhaberin eines Spielwarengeschäfts in Berlin-Neukölln, beabsichtigte, sich vorsorglich für das Weihnachtsgeschäft einzudecken.
Moderne Eltern, mit allen Wassern der Konsumkritik gewaschen, meinte B., präferieren Traditionswerte. Sie kaufen ihren Kindern am liebsten, womit sie selbst einst gespielt haben. Daß ich mit den Figuren gar nicht spielen, sondern sie bloß ansehen durfte, nahm sie bedauernd zur Kenntnis. Heutige Kinder dürfen alles aus den Regalen zerren und hinterlassen nicht selten einen Trümmerhaufen aus Mobiles und Klötzchen, der von selbstbewußten Eltern, so B., nonchalant übergangen werde.
Der Mann in Schneeberg war wenig kooperativ. Die meisten Sätze seien ihm nur einfach zugeteilt. Das Wort Zuteilung hatten wir als Aufforderung verstehen sollen, nicht weiter nachzufragen. „Zuteilung“ war im DDR- Deutsch die elaborierte Fassung von: „Ham' wa nich'!“ Wir sollten es mal in Seiffen versuchen.
Seiffen an der Silberstraße auf dem Kamm des Erzgebirges ist der Hauptort des erzgebirgischen Spielzeugmachens. Zahlreiche Werkstätten und kleine Manufakturen finden sich in dem Mittelgebirgsdorf, das von Schneeberg fast zwei Autostunden entfernt ist.
Viele Vitrinen mit aufwendigen Schlössern und kostbaren Inhalts gab's auch hier. Viel schöner als in Schneeberg, meinte B. Wir ließen uns erklären, daß die zahlreichen Sammler der Figuren den jeweiligen Hersteller bereits anhand der Farbmischung identifizieren können. Die Nachfrage, auch aus Übersee, sei im Grunde gar nicht zu decken. Wer Erzgebirgisches wollte, brauchte bereits zu DDR-Zeiten Beziehungen. B.s Wunsch nach einem größerem Sortiment blieb denn auch in Seiffen unbefriedigt.
Zu einem Einkauf von ostasiatischen Imitaten der Seiffener Volkskunst konnte sie sich freilich nicht entschließen. Seit der Kindheit weiß unsereiner, was echt erzgebirgisch ist. B. verkauft in ihrem Spielwarengeschäft jetzt Ostheimer-Krippen, eher anthroposophisch inspirierte Weihnachtsdevotionalien.
Die Seiffener Einzelstücke, die sie seinerzeit in Schneeberg und Seiffen dann doch noch erstehen konnte, stehen zu Hause im Regal und werden in Sicherheit gebracht, wenn Kinder nahen. Harry Nutt
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