Wühltisch: Das Ei des Homunkulus
■ Das digital erziehbare Taschenhaustier ist da: vorerst nur in Japan. Bei Ungezogenheit neu starten
Ein emotional sehr stark belegtes Problem des großstädtischen Lebens scheint gelöst. Die Straßen könnten bald hundekotfrei sein. In Japan hat nämlich ein künstliches Haustier das Licht der Welt erblickt. Wie jedes neue Leben, so kommt auch dieses Wunder aus einem Ei (japanisch: Tamago). Es ist ein Plastikei und heißt Tamagotsch, kostet circa 30 Mark und ist ein Elektronikspielzeug. Was bisher dem Computerspiel mit Hilfe einer CD-ROM vorbehalten war, das trägt man nun als Ei in der Hosen- oder Handtasche. Tamagotsch ist ein virtuelles Lebewesen und funktioniert nach dem Prinzip des Biospiels. Die Henne, die dieses Ei ausgebrütet hat, heißt Aki Maita. Sie ist eine junge Angestellte des Bandai-Konzerns und wollte die allgemeine Tierliebe der Japaner mit einem Handy verschmelzen. Herausgekommen ist das künstliche Haustier Tamagotsch, das nun schon in über 500.000 japanischen Hosentaschen vegetiert.
Es hat einen kleinen Flüssigkristallbildschirm, sozusagen ein hochmodernes Gesicht, besitzt einen raffiniert einprogrammierten Lebensrhythmus, der durch Knopfdruck beeinflußt werden kann, und hat natürlich auch natürliche Bedürfnisse, die befriedigt werden wollen. Tamagotsch piepst und will essen, trinken, schmusen, spielen und schlafen. Die Wahl der Erziehungsmethoden des Herrchens/Frauchens trägt wesentlich zur Entwicklung des Pfleglings bei. Man kann durch falsche oder richtige Erziehung ein tyrannisches, die Nachtruhe störendes Monster oder ein anschmiegsames Kuscheltier heranzüchten. Der Tamagotsch lebt bei richtiger Behandlung circa 20 Tamagotsch-Jahre, das sind etwa zwei Wochen nach unserer Zeitrechnung. Man gibt ihm durch Knopfdruck symbolisch Nahrung, und per Knopfdruck verteilt man auch seine Streicheleinheiten an das liebreizende Taschentier.
Bei falscher Behandlung stirbt es früher. Ein kleiner Sarg auf dem Bildschirm deutet das an. Eine Beerdigung findet nicht statt, denn durch Drücken des Starters beginnt sein nächstes Leben. Er verrät von Geburt an per Flüssigkristall seine Lebensdaten, wie Alter und Gewicht. „Ich habe ihm immer Kuchen gegeben, jetzt ist er gestorben, mit 99 Gramm“, klagte eine enttäuschte Tamagotsch-Mutter im japanischen Fernsehen.
Der Tamagotsch ist kein Windei. Tausende warten in langen Schlangen vor den Läden, wenn eine neue Lieferung eingetroffen ist. Bandai bietet auch die schickeren goldenen Eier an. Sie bieten sich zur avancierten Distinktion für jene an, die gern kostbare Accessoires mit sich tragen.
Aber neuerdings hat die Firma Angst um ihre goldenen Eier. Raubkopien des Tamagotsch sind bereits auf dem Markt. Bandai will gerichtlich dagegen vorgehen und hat als neue Waffe eine verbesserte Version, den Tamagotsch2, in Serie gegeben. Den Tamagotsch simplex kann man sich in Zukunft wohl etwas größer und als Ersatz für alle anderen Haustiere denken.
Der künstliche Hund wird fiepen, aber nicht mehr Gassi gehen müssen. Katzen werden den Kanarienvögeln nicht mehr nachstellen. Der Papagei wird schlüpfrige Herrenwitze erzählen, und der Goldhamster kann das Roulette bedienen. Denkbar wäre auch die ganz große Version des menschlichen Lebenspartners als Homunkulus am Tisch und im Bett, den man liebevoll pflegen, aber durch falsche Behandlung schnell ins Jenseits befördern kann. Dieter P. Meier-Lenz
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