Wovon Max Brod träumte

■ "Unter Vermeidung von Gewalt" - ein Gespräch mit dem Mitherausgeber der Franz Kafka Ausgabe, Roland Reuß

„Kafka hat keine Romane hinterlassen. Die FKA wird diesen im Verlauf der Wirkungsgeschichte durch die Konventionen entstandenen Schein begrifflich wie darstellungstechnisch auflösen ... Der Kafkasche Nachlaß sträubt sich der bequemen Einordnung in die herkömmlichen Gattungsschemata. Die FKA wird diesen Widerstand nicht brechen, sondern, unter Vermeidung von Gewalt, seinem Impuls, seinen Kraftlinien folgen.“ Programmatische Sätze des hermeneutischen Pazifisten Roland Reuß aus dem jetzt vorliegenden Einleitungsband der im Stroemfeld Verlag erscheinenden neuen textkritischen Kafka-Ausgabe.

Seit dem 31. Dezember sind Kafkas Werke frei zum Nachdruck, da die Urheberrechte abgelaufen sind. Ginge es nicht um einen der wichtigsten Schriftsteller unseres Jahrhunderts, wäre dieser Termin ohne viel Tamtam verstrichen, so aber machte sich sichtlich Nervosität breit. Der S. Fischer Verlag, bisher alleiniger Nutznießer der Rechte, schloß just zum Verfallsdatum der Urheberrechte seine „Kritische Kafka Ausgabe“ (KKA) ab, um sich weitere 25 Jahre das Monopol auf dem Kafka-Markt zu sichern. (So lange ist diese Edition noch einmal urheberrechtlich geschützt.) Aber auch andere waren nicht faul, Roland Reuß und Peter Staengle, hochgelobte Herausgeber der „Brandenburger Kleist Ausgabe“ im Hause Stroemfeld, haben ihrerseits termingerecht den ersten Band einer kritischen „Franz Kafka Ausgabe“ (FKA) vorgelegt: „Process“, schon im Titel lassen sie erkennen, daß sie es mit ihrem faksimilierten Abdruck der Handschrift inklusive einer Umschrift genau nehmen und alle Einfügungen, Streichungen und Korrekturen Kafkas berücksichtigen. (Kafka schrieb in seinem Entwurf immer „Process“ und nicht dudengerecht „Prozeß“.) Mitherausgeber Roland Reuß behauptet, in der KKA aus dem Hause S. Fischer fänden sich weitere schwerwiegende editorische Fehler.

Die Handschriftenlage ist im Falle Kafka verworren. Im Marbacher Literaturarchiv liegt der „Process“, Brods Witwe in Tel Aviv besitzt den Briefwechsel zwischen Kafka und Brod, über den größten Teil der Handschriften setzten Kafkas Großnichten den Oxforder Germanisten Malcolm Pasley (der zudem selbst Kafka-Herausgeber ist) als Verwalter ein. Nicht verwunderlich also, daß die Schlacht am kalten Buffet eröffnet wurde und auch der Noch-Feuilletonchef der Zeit mit von der Partie sein wollte. Ulrich Greiner verteidigte in einem Zeit-Artikel vom 30.12. die KKA. Aus dem Herausgeber Pasley (Oxford) wurde flugs ein Herr Paisley, und aus der „Franz Kafka Ausgabe“ vom Stroemfeld/ Roter Stern Verlag im Handumdrehen eine „Frankfurter Kafka Ausgabe“. So kann's gehen, wenn man aus der Hüfte schießt.

taz: Ist ihr Unternehmen nicht ein Kampf gegen Windmühlen, und hat Ulrich Greiner von der Zeit nicht Recht, wenn er bezweifelt, daß Sie ihre Ausgabe überhaupt werden fertigstellen können?

Roland Reuß: Ich verstehe Herrn Greiner, denn er hat über Jahre die S.-Fischer-Ausgabe wohlwollend in der Zeit begleitet und kann nicht plötzlich sagen, alles, was ich in den letzten Jahren in diesem Fall geschrieben habe, war Käse. Ich verstehe, daß man dazu gewisse Zeit bräuchte und sich unseren ersten Band erst einmal in Ruhe ansehen müßte.

Der Witz an der Sache ist, daß Greiner das Kunststück einer maskulinen unbefleckten Empfängnis gelingt und er über etwas schreibt, mit dem er keinen Kontakt hatte. Daß das so ist, sieht man unter anderem daran, daß er lediglich von den faksimilierten Seiten aus dem „Process“ spricht. Tatsächlich haben wir aber auch Kafkas wichtigste Erzählung „Das Urteil“ abgedruckt, was man nur wissen kann, wenn man den Band in der Hand gehabt hat. Daß war bei Greiner nicht der Fall, da wir ihn zum Redaktionsschluß der Zeit noch niemandem ausgehändigt hatten. Tatsächlich empörend finde ich allerdings, daß der Feuilletonchef einer liberalen Wochenzeitung es als einen ganz normalen Vorgang empfindet, daß Herr Pasley in Oxford uns unter Umständen den Zugang zu den Handschriften verweigern könnte. Wenn die Presse eine Funktion hat, dann ist es doch die, über strittige Sachverhalte Aufklärung herbeizuführen, was nicht geht, solange Materialien vorenthalten oder Abdrucke nicht genehmigt werden.

Hatten sie damit gerechnet, daß die Wogen so hoch schlagen werden?

Nein, gar nicht. Wir hatten ganz andere Probleme und bewegten uns in juristischen Grauzonen. Bis zum 31. Dezember zum Beispiel war es strittig, ob man im Falle der Handschrift von Kafkas „Process“ nun die Abdruckgenehmigung in einer öffentlichen Bibliothek, im Marbacher Literaturarchiv, einholt oder beim S. Fischer Verlag, wo die Urheberrechte lagen. Hätten wir unsere Ausgabe schon letztes Jahr angekündigt, wie man das normalerweise macht, hätte es uns passieren können, daß S. Fischer uns blockiert. Uns war von vorneherein klar, daß wir auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind, und ich denke auch, daß wir die bekommen werden, da bei einem international bedeutsamen Autor wie Franz Kafka die Öffentlichkeit eigentlich darauf drängen müßte, daß die Handschriften des Autors einsehbar sind.

Blockiert Pasley die Handschriften, kommt es zu einem frühen Ende Ihrer Ausgabe. Wären Sie auch mit einer fragmentarischen Ausgabe zufrieden?

Nein, auf keinen Fall, und ich denke auch nicht, daß das geschehen wird, da Pasley nicht Eigentümer der Manuskripte, sondern lediglich Nachlaßverwalter ist. Wenn wir also jetzt den „Process“ vorlegen und die „Briefe an Milena Jesenska“ folgen lassen, wird man sehen, daß wir seine Handschriften sichern und daß die Handschriften künftig geschont werden, wenn wir sie erst einmal alle elektronisch erfaßt haben. Auch deswegen wehre ich mich gegen die Schwarzmalerei von Greiner und rechne damit, daß Pasley sich ein Urteil bilden wird und sich nicht erlauben kann, einer interessierten Öffentlichkeit Manuskripte vorzuenthalten. Pasley ist für mich kein böser schwarzer Mann.

Wird mit einer wissenschaftlichen Ausgabe, wie Sie sie vorlegen, dieser demokratische Anspruch nicht gerade unterhöhlt? Muß der Leser nicht immenses Wissen mitbringen, um nicht hilflos dazustehen?

Ein Grundproblem aller wissenschaftlichen Werkausgaben ist tatsächlich, daß man sich fragen muß, für welches Publikum sie überhaupt sinnvoll sind. Allerdings, wir haben es heute mit einem sehr differenzierten und auseinanderdriftenden Publikum zu tun. Es gibt natürlich Leser, die nicht mehr in der Lage sind, differenzierte Texte zur Kenntnis zu nehmen, auf der anderen Seite aber auch hochspezialisierte Leser, die nicht im Mainstream schwimmen und ihre Ansprüche nicht mehr befriedigt sehen. Speziell Kafka ist kein leichter Autor, so daß Kafka-Leser nach einem bestimmten Zeitpunkt begierig sind, alle erreichbaren Informationen über ihn zu bekommen. Hinzu kommt, daß man früher oder später mit der ganz eigenartigen Handschrift Kafkas konfrontiert wird, die man unter Tausenden sofort wiedererkennt. Sie hat graphischen Charakter, die Manuskripte enthalten Zeichnungen, die unzulässigerweise immer wieder herausgelöst werden.

Im Falle des „Process“ gehen Sie noch einen Schritt weiter und sagen, den Roman gebe es gar nicht, Brods Textfassung sei eine Fiktion. Warum diese schöne Fiktion zerstören, an die sich der Leser inzwischen gewöhnt hat?

Wenn man sich zum ersten Mal mit Kafka beschäftigt, ist es im Grunde egal, ob man mit einem herkömmlichen Lesetext oder einer Kritischen Ausgabe anfängt. Wer genauer verstehen will, was Kafka meinte, muß dann allerdings das bestmögliche Material bekommen. Solange Kafka eine unbekannte Größe war, ging es vorrangig darum, die Leser zu ködern: Seht her, beschäftigt Euch mit diesem Autor, der ist wichtig. Was Max Brod machte, war für die Zeit von 1925 bis 1935 strategisch völlig sinnvoll. Er selbst hat allerdings, als er sah, daß Kafka mehr und mehr angenommen wurde, seine schöne, abgerundete Form verworfen. In einem Text von 1954 meint er, das beste wäre, Kafkas Handschriften komplett zu photographieren und herauszugeben. Das allerdings hielt er für utopisch, da es die technischen Mittel noch nicht gab. Wenn wir heute den „Process“ scannen und eine faksimilierte Handschrift mit Umschrift herausbringen, machen wir nichts anderes als das, wovon Brod träumte.

Franz Kafka: „Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Einleitung.“ Stroemfeld Verlag. 1995. 112 Seiten, 48 DM

Interview: Jürgen Berger