: Woran erkennt man eine gute Glosse?
■ betr.: „Ein Sack Reis im Epochen wechsel“ (Nachtrag zur Erfurter Erklärung), taz vom 17.1. 97
Woran erkennt man eine gute Glosse? – Sie sollte möglichst viele LeserInnen ansprechen und (zeit-)geistreich sein sowie ein gewisses Maß an intellektueller Authentizität erkennen lassen. Letzteres erreicht Herr Henschel durch u.a. die Projektion ureigenster Sehnsüchte: wieder einmal den eigenen „Namen in der Zeitung sehen“ und „einträglichem Prominentenstatus“ sowie seiner Selbsterfahrungserkenntnisse: „grenzenlose Selbstüberschätzung“, „geistige Stromlinienförmigkeit“ auf die Verfasser der Erfurter Erklärung. Schließlich kann er sich der Zustimmung der großen schwarz- rot-grünen Koalition der (westdeutschen) „Rote-Socken-Hasser“ gewiß sein.
Infantil unbeschwert wie Harald Schmidt (Essen Sie auch gern britisches Beef?) kalauern Sie über Geister, wenn von Geist die Rede ist. Erbarmungslos entlarven Sie die Unterzeichner als Überbleibsel einer frauen-, friedens- und ökologiebewegten Zeit, in der nicht nur Aktivisten wie Friedrich Schorlemmer und Horst Eberhard Richter die Vision einer gerechteren, friedlicheren und freieren Welt in ihren Köpfen hatten und dafür auf die Straße gingen.
Heute trinken wir unser Bier wieder aus Büchsen und lassen uns von AusländerInnen nicht mehr die Arbeitslosigkeit wegnehmen; bei sechs Millionen an der Zahl können sich Frauen wieder um die Familie kümmern.
Als Dank wird das in den Achtzigern geforderte „Frieden schaffen ohne Waffen“ beim Kauf des Jäger 90 berücksichtigt. Schluß mit pazifistischen Sprüchen und albernen Lichterketten, das bringt doch alles nichts, weder dem Wirtschaftsstandort Deutschland noch den Grünen.
Die ehemalige Protestpartei, entstanden als politisches Sprachrohr sehr unterschiedlicher Strömungen der bürger- und zukunftsbewegten Achtziger, hat sich von ihren Ideen und Idealen weitgehend verabschiedet und betreibt statt dessen Realpolitik – genau wie die anderen. Zur Überwindung der damit auftretenden kognitiven Dissonanzen verteufeln auch die Chaoten der Achtziger jene der Neunziger, egal ob sie dem Sammelbecken der aus welchen Gründen auch immer von der Realpolitik Frustrierten (PDS) oder den Reihen der „Linksintellektuellen“ (igittigitt: zwei sich potenzierende Schimpfworte in einem) entstammen – oder schreiben eine lustige Glosse. Zum Beispiel über den (Horst Eberhard) „Richter von der traurigen Gestalt“, der, noch immer in tiefer Sorge um den eingeschlagenen politischen und gesamtgesellschaftlichen Weg, sich immer wieder mit den wenigen verbliebenen ehemaligen „Rittern der Tafelrunde“ zu Wort meldet. Arme Irre?
Glauben Sie denn wirklich, daß eine so überzeugende Zusammenarbeit wie zwischen Grünen und SPD (in memoriam Niedersachsen und Stuttgart) durch die vergangenheitsbelastete PDS ergänzt werden muß (Minus mal Minus gibt Plus!)? Den Regierungswechsel schaffen die beiden auch allein nicht. Und Epochen „lassen sich erst nach Jahrzehnten im historischen Rückblick bestimmen und auseinanderhalten“ – wie die gelungene Aufarbeitung des Dritten Reiches beweist. Was also tun? – Na, wie bisher: Über Kanzler Kohl und Gysi schimpfen und „gute“ Glossen lesen (s.o.). „Kritische Dialoge“ werden schließlich woanders geführt. Bernd Höppner, Freiburg
[...] Henschel versucht in seinem Beitrag, ganz im Stil eines Josef Goebbels unseligster Zeiten, national und international anerkannte Menschen abzuqualifizieren und fertigzumachen. Zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit der Erfurter Erklärung ist der Schmähschreiber nicht fähig. Er will die unangenehmen Wahrheiten nicht akzeptieren, die den Zustand der Bundesrepublik Deutschland Anfang 1997 beschreiben und die Sorge der Unterzeichner begründen: 4,5 Millionen gemeldete Arbeitslose, nicht veröffentlichte Millionen Langzeitarbeitslose und damit Sozialhilfeempfänger, eine Millionen Obdachlose, Zigtausende von Jugendlichen ohne Ausbildungsmöglichkeiten, und gleichzeitig boomt in Deutschland der Export von Gütern der Großunternehmen mit guten Gewinnen. Muß es bei diesem Zustand Deutschlands und dem Verhalten der politisch Verantwortlichen nicht einer Zahl verantwortungsbewußter Männer angst werden, wie hier mit einem Großteil der Menschen umgegangen wird?
Pausenclowns, die nichts anderes im Kopf haben, als das redliche Bemühen weltweit renommierter Männer in den Schmutz zu ziehen, damit aber nur ihre eigenen Dummheit zu Markte tragen, sollte man schnellstens in die Wüste schicken und dort vergessen. Richard Uhrig, München
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