Wolfgang Schivelbusch über die Krise: "Demokratie ist ein Wohlstandsprodukt"

Die drohende Wirtschaftskrise wird Gesellschaften erschüttern, fürchtet der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch. Kluge Politiker sollten sie so nutzen, wie einst US-Präsident Roosevelt.

Die Krise hat noch nicht den Magen erreicht: Die Restaurants in New York sind noch gut besucht. Bild: ap

taz: Herr Schivelbusch, ist die anrollende Wirtschaftskrise mit der Depression der frühen Dreißigerjahre vergleichbar?

Wolfgang Schivelbusch: Im Alltag fehlt die Krisenerfahrung noch total - das ist der Unterschied. Wenn man den Magen als Symbol für das Materielle nimmt, dann hat er daran noch gar nicht teil. Alles spielt sich im Kopf, in der Einbildung ab. Das war Anfang 1933 anders. Damals gingen vier Jahre ausgiebigen physischen Niedergangs voraus.

Der Zusammenbruch der Banken, der Crash an den Börsen ist für Sie nicht real?

Der Finanzsektor ist doch vollkommen immateriell, und er hat über Jahre hinweg gleichermaßen immaterielle Fantasien getragen. Die reale Produktion, die mit diesem Geld verfrühstückt wurde, kam hier in Amerika überwiegend aus dem Rest der Welt. Er hatte mit der eigenen Ökonomie und Lebenserfahrung nichts mehr zu tun.

Es gibt immerhin noch die Autokonzerne, um deren Rettung jetzt gerungen wird.

Das war doch ein Feigenblatt - ähnlich wie der Agrarsektor, der in vielen Industrieländern nur noch aus kosmetischen Gründen dazugehört. Ein Dinosaurier, dessen Absterben jetzt zusammentrifft mit dem Platzen der virtuellen Blase. Wobei auch das Platzen bislang völlig virtuell bleibt. Selbst in einer Stadt wie New York - wenn Sie hier durch die Straßen gehen, dann sehen Sie überfüllte Restaurants.

Weil die Leute sagen: "Auf der Bank ist das Geld nicht sicher, geben wir es lieber aus"?

Das kann sich jeden Tag ändern. Heute halten wir alles zusammen, weil wir vielleicht unseren Job verlieren. Morgen sind wir dem Abgrund schon einen Schritt näher, und es entsteht die Psychologie eines Tanzes auf dem Vulkan. So ähnlich wie in dem Film "Cabaret", der im Berlin der frühen Dreißigerjahre spielt.

Damals wurde in Deutschland die Krise der Wirtschaft zu einer Krise der Demokratie. Besteht diese Gefahr auch heute?

Nicht speziell für Deutschland, aber für die Demokratie insgesamt. Sie ist ein Wohlstandsprodukt, das seit dem 19. Jahrhundert durch den immensen Reichtum Westeuropas möglich wurde. Und damit, klassenkämpferisch gesprochen, durch die Ausbeutung der Dritten Welt. Das geht nun zu Ende. Sehen Sie sich nur an, wie sich die Tourismusindustrie neuerdings um Gäste aus China oder Indien bemüht - und der Westen in die Rolle des Dienstpersonals schlüpft.

Der Westen kommt aus der Krise gar nicht mehr heraus?

Es kommt darauf an. Als Barack Obama für die Präsidentschaft kandidierte, musste ich sofort an die Periode der Soldatenkaiser im späten Rom denken. Plötzlich kamen Syrer und Numidier auf den Thron, auf dem vorher nur Römer saßen. Damit bewies das Imperium eine erstaunliche Flexibilität, es hatte die Globalisierung auch politisch vollzogen.

Und das System für ein paar Jahrhunderte stabilisiert.

Eben! Deshalb ist auch über Amerika das letzte Wort noch nicht gesprochen. Ohne das Debakel der Bush-Ära wäre das nicht möglich gewesen. Wenn Sie so wollen, ist das die historische Leistung von Bush - Obama hervorgebracht zu haben.

Wenn die Demokratie ein Wohlstandsphänomen ist: Warum hat sie in den USA, anders als in Deutschland, die Weltwirtschaftskrise überlebt?

Weil sie hier kein zartes Pflänzchen ist, kein Luxus einiger aufgeklärter Intellektueller. Demokratie ist hier kein bloßes Ideal. Es ist der Boden, auf dem die Leute stehen. Wer hier etwas Elitäres und Undemokratisches machen wollte, müsste es im Gewand der Demokratie einführen.

In Ihrem Buch über den New Deal schildern Sie, dass Franklin D. Roosevelt in der Wahl der Mittel nicht zimperlich war.

Der Dialog zwischen plebiszitärer Masse und Führerfigur ist der amerikanischen Demokratie ja nicht fremd. Der demokratische Konformismus lässt wenig Platz für Minoritäten, abweichende Meinungen werden weggeschwiegen. Andererseits ist das ein fantastisch sich selbst regelndes System, das ohne physische Repression auskommt.

Erklärt das Roosevelts Erfolg?

Hinzu kam: Roosevelt musste nur die Macht auflesen, die als herrenloses Gut auf der Straße lag. Sein unglücklicher Vorgänger Herbert Hoover hatte dazu absolut kein Talent.

Ist die zaudernde Angela Merkel ein deutscher Hoover?

Im Moment mag es so aussehen, aber das kann sich schnell ändern. Merkel muss nur zum richtigen Zeitpunkt einen Coup landen, dann steht sie plötzlich als Retterin da. Es muss allerdings zu ihr passen. Mit ihrem leisen Charisma überzeugend Ruhe zu vermitteln - das könnte klappen.

Merkel als Charismatikerin? Das meinen Sie nicht ernst.

Auch Roosevelt war nicht der Mann für große Plätze. Sein Vorteil war, dass er aussah wie der gute Onkel. Merkel ist der gleiche Typ: Nach innen hart wie Kohl und Ulbricht, nach außen verbindlich wie die freundliche Nachbarin.

Was kann der Staat in einer liberalen Marktwirtschaft überhaupt tun?

Geld drucken. Das kann Europa aber nicht so wie die USA - weil der Dollar immer noch die Leitwährung ist; der Inflationseffekt verteilt sich über die ganze Welt. So haben die Amerikaner übrigens schon den Vietnamkrieg finanziert. Aber damals ging es um bescheidene Beträge - im Vergleich zu den Billionensummen der heutigen Rettungspakete.

Stehen wir heute nicht eher vor einer Deflation?

Das kann schnell umschlagen. Nach dem Ersten Weltkrieg sind die meisten Länder in Deflation und Krise versunken. In Deutschland hat die Wirtschaft bis Anfang 1923 geboomt, dann kam die Schlussrechnung in Form der Hyperinflation. Wenn sich das wiederholt, dann gute Nacht.

Das klingt, als könne der Staat kaum etwas tun. Glaubt man Ihrem Buch, war auch der New Deal wenig erfolgreich.

Ökonomisch nicht. Aber er hat motiviert - und dadurch sozial stabilisierend gewirkt. Er hat die Leute dazu gebracht, dass sie nicht die Paläste stürmten, sondern an öffentlichen Projekten arbeiteten und mit einer Suppe zufrieden waren. Er hat Gemeinschaftsgefühle erzeugt wie im Krieg. Roosevelt sagte das wörtlich in seiner Inaugurationsrede: Unser Land ist von einem Feind besetzt gehalten, und der Feind ist die Krise.

Das klingt sehr martialisch.

Es war aber absolut wirkungsvoll.

Roosevelt arrangierte sich nach ein paar Jahren mit den Konzernen. Ist die Rede von der Kontrolle der Finanzströme auch heute bloße Rhetorik?

Ich glaube nicht. Scheinbar felsenfeste Essentials eines Systems werden mit der größten Leichtigkeit über Bord geworfen, wenn sie dem System selbst gefährlich werden. Da ist eine Type wie Ackermann fast schon ein Kasper auf der Bühne der Commedia dellArte - heute so, morgen so.

Steckt in der Krise, wie es gerne heißt, auch eine Chance?

Wenn die Krise aus dem Bereich eines medialen Gefühls heraustritt und zu einem wirklichen Zusammenbruch wird, der jeden betrifft - dann kann sie eine Riesenchance sein.

Wofür?

Es mag hoffnungslos altmodisch sein, auf die Authentizität des physischen Crashs zu warten. Solange das Essen da ist und der Fernseher läuft, bleiben die Leute bei der Stange. Aber wenn man realistisch betrachtet, was möglich ist, dann war Roosevelt ein Neubeginn - der immerhin ein paar Jahre gehalten hat.

INTERVIEW: RALPH BOLLMANN

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