: Wo die Welt aufhört
Algerien überlebt in langen Gesprächen bei Tee oder Bier: Boualem Sansals Roman „Erzähl mir vom Paradies“
Boualem Sansal tut einmal mehr das, was er am besten kann. Er betätigt sich als „Geschichtenfänger“. In seinem neuesten Roman „Erzähl mir vom Paradies“ breitet er seinen reichhaltigen Fang aus: „Geschichten, brühwarm aus der Bar, die weder Hand noch Fuß haben“, Geschichten, die ein fein gewobenes Bild eines „verlorenen Landstrichs namens Algerien“ entstehen lassen. Handelten Sansals ersten beiden Werke, „Der Schwur des Barbaren“ und “Das verrückte Kind aus dem hohlen Baum“, von den dunklen Jahren des bewaffneten Konfliktes mit den Islamisten in den Neunzigerjahren, spannt er dieses Mal den Bogen weiter.
„Erzähl mir vom Paradies“ ist eine eigenwillige Hommage an ein Land, das dieses Jahr den 50. Jahrestag des Beginns des Unabhängigkeitskrieges gegen Frankreich feiert. „Wenn der Schmerz unerträglich wird, reden wir vom Paradies. Das können wir besser als sonst irgendwo“, begründet Sansals Titelgestalt, warum er in der „Bar des Amis“ im Arbeiterstadtteil Bab el Oued in Algier stundenlang seine Geschichten spinnt. Freunde und Saufkumpane lauschen gespannt diesen „Reiseberichten eines Bantunesen“. Sie fragen nach, debattieren und schlagen so die Zeit tot, von der es zu viel gibt in einem Land, in dem das Fernsehen die Wahl zwischen Präsidentenansprache, Fußball und Tierfilmen lässt. Erzählen, analysieren, Komplotte schmieden, Wissen weitergeben, vermeintliche oder tatsächliche Intrigen der Herrschenden aufdecken: Algerien überlebt in langen Gesprächen bei Tee oder Bier und vergisst so für einige Stunden die alltägliche Tragödie.
Sansal schaut mit seinem neuen Roman den erzählfreudigen Algeriern auf den Mund und erzählt mit dem ihm eigenen Stil zwischen Ironie und magischem Realismus die allgegenwärtigen Geschichten. Er beschreibt die Ängste, Nöte und die mentalen Fluchten auf die andere Seite des Mittelmeeres, nach Frankreich. „Wo die Welt aufhört, fängt Algerien an.“ In der „Bar des Amis“ entstehen wortreich Prototypen der heutigen algerischen Gesellschaft: kleine Ganoven, Islamisten, Schwarzmarkthändler, Bürokraten, Nutten und Zuhälter.
Das Algerien Sansals ist ein Land, in dem sich „alles außerhalb unseres Willens abspielt“. Selbst die Religion hat ihre ursprüngliche Funktion verloren: „Glauben zu haben ist für einen Muslim nicht mehr zeitgemäß, man wird nur eingelassen, wenn man neunundneunzig Arten seinen Nächsten zu erwürgen kennt“, schreibt Sansal.
Als der Konflikt mit den bewaffneten Islamisten Mitte der Neunzigerjahre seinen Höhepunkt erreichte, traute sich Sansal, einst ein hoher Beamter im Industrieministerium, in seinem Wohnort vor den Toren Algiers monatelang nicht auf die Straße. Er entdeckte das Schreiben als eine Art von Selbsttherapie. Auch heute ist es einsam um den in Frankreich preisgekrönten Schriftsteller. In seiner Heimat nämlich, in der er es als einziger der international bekannten algerischen Schriftsteller noch aushält, wird er von den Oberen als Nestbeschmutzer verachtet. Genau das gibt Sansal neuen Mut zum Schreiben. „So warte ich auf bessere Zeiten, bevor ich ihnen das Schlimmste vor die Füße schmeiße“, kündigt er in der „Bar des Amis“ weitere Werke an.
REINER WANDLER
Boualem Sansal: „Erzähl mir vom Paradies“. Deutsch von Regina Keil-Sagawe. Merlin Verlag, Gifkendorf 2004. 320 Seiten, 22,90 Euro