Wittkop hat für immer abgesattelt

■ Der letzte bundesdeutsche Sattelhersteller wirft das Handtuch / Umrüstung vom Sattlerhandwerk auf eine Spritzgußanlage brachte keine Rettung für den Betrieb / Kreditunwillige Banken fungieren als Zwangsvollstrecker der Kapazitätsanpassung / Die Beschäftigten gehen leer aus

Von Günter Piening

„Wir wollen unseren Lohn“. Ein wenig verloren steht das Transparent an der verrußten Mauer, über der sich in bestem Bielefelder Industrie–Klassizismus das massige Fabrikgebäude erhebt. Hier preßten, nähten und stanzten einmal 400 Männer und Frauen an der Sitzvorrichtung, auf der der kriegsmüde deutsche Landserarsch dem Wirtschaftswunderland entgegenrollte: Fahrrad– und Mofasattel. Vom Boom der fünfziger Jahre sind 27 Beschäftigte, ein Seniorchef und ein Geschäftsführer übriggeblieben. Der „letzte deutsche Sattelhersteller mit Komplettprogramm“ (Wittkop über Wittkop) hat Antrag auf Eröffnung des Vergleichsverfahrens gestellt. Das Tor steht sperrangelweit auf, kein Pförtner kontrolliert, durch ein menschenleeres, mächtiges Treppenhaus erreicht der Besucher die Chefetage. Hinter einer Milchglastür Marke Zahnarztpraxis ein schäbiger Flur im grünen Pastell der Fünfziger, dann ein kleines, schmuddeliges Vorzimmer. „Der Herr Geschäftsführer läßt sich entschuldigen, er stellt gerade auf dem Amtsgericht Antrag auf Vergleich.“ Vizechef Bunte führt also durch den Betrieb. Zunächst ins Archiv. In der Ecke das Modell von einem Männer– und einem Frauensteiß. An den Wänden hängt, was ihnen gut tut: Hunderte von Fahrradsatteln, made by Wittkop. Der Seniorchef wird wehmütig: „Seit 1898 sind wir im Geschäft. Vor dem Krieg arbeiteten hier bereits mehrere hundert Menschen, aber damals ging ja das meiste in die Rüstung. Nach dem Krieg ging es schnell wieder aufwärts, denn wir waren die ersten, die Mofa–Sattel bauten. Ganz Europa fuhr auf Wittkop–Satteln, über eine Million haben wir jährlich verkauft, mehr als 400 Menschen arbeiteten hier.“ Das war einmal. Als der Wirtschaftswunderbürger umsattelte auf das vierrädrige Statussymbol, gings auch mit der westdeutschen Sattelindustrie abwärts. Durch leere Etagen, vorbei an Containern mit Federn, Stangen, Stegen und sonstigem Krimskrams, aus dem ein Sattel ist, begeben wir uns auf die Suche nach den letzten Sattelbauern. Drei sind in der ersten Etage übriggeblieben. Seit Oktober haben sie keinen Lohn mehr bekommen, und daß sie ihr Scherflein aus der Aufstockung der Konkursmasse abkriegen, ist genauso unwahrscheinlich wie der Erhalt der Arbeitsplätze. Passend zum Fest ging den letzten 27 Wittkop–Beschäftigten die Zukunft flöten. „Ja, an so einen Ledersattel kommt kein anderes Produkt heran“, räsoniert der dazugekommene Geschäftsführer Hufendiek, der seine Vergleichspflicht beendet hat. „Aber das ist ja alles viel zu arbeitsintensiv. Seit 15 Jahren tobt der Preiskampf, und so können wir nicht mithalten.“ Inder Tat profitierten die bundesdeutschen Sattelhersteller vom Fahrradboom Anfang der achtzi ger Jahre kaum. Der Markt verlangte für den 200 Mark–Schrott Marke Kaufhaus–Fahrrad eine ebensolche Sitzgelegenheit, und die Italiener machten das Rennen. Hufendiek: „Unsere Sattel gehen fast nur in den Handel. Für die Zweitausrüstung - wenn die Radfahrer gemerkt haben, daß sie auf dem Billigstsattel nicht sitzen können.“ Um ein wenig mitzuhalten, ließ Wittkop die Sattel von Gefangenen in der nahegelegenen Justizvollzugsanstalt oder von den Behinderten in Bielefeld–Bethel zusammenbauen - das kam billiger. Aber es reichte nicht, und so hielt die große Maschine Einzug in die altehrwürdigen Fabrikhallen. Wir haben die High–Tech– Halle erreicht, und Herr Hufendiek wird sichtlich lebendiger; das hier ist nicht mehr Handwerk, das ist Fabrik, in der es nach Chemie und nicht nach Leder riecht. Ein Arbeiter ist von rund 30 Gußformen umzingelt, in jede legt er ein Sattel–Untergestell, greift einen Schlauch, füllt die Form mit einer schwarzen, teerartigen Brühe. „PU–Schaum“, erläutert stolz Herr Hufendiek, „entwickelt in Zusammenarbeit mit der Firma Bayer. Der Kunststoff schäumt auf, geht mit dem Metall eine feste Verbindung ein. Nach dem Abkühlen muß er nur noch minimal bearbeitet werden.“ Die Rationalisierungswelle und ein ausgeprägtes Marken– Styling (Wittkop–Sattel tragen klingende Namen wie „medicus“ opder „comfort“) brachte Anfang der Achtziger das Unternehmen sichtlich auf Touren. Allein in diesem Jahr werden noch einmal 13 Prozent Umsatzzuwachs verbucht, Wittkop ist nicht überschuldet, die Kredite sind abgesichert durch das eine bis eineinhalb Millionen Mark schwere Fabrikgebäude. Dennoch ist die Firma pleite. Seniorchef Bunte rechnet die Logik in Zahlen um: „Rund 2,5 Millionen Fahrräder werden jährlich verkauft, damit ist der Markt gesättigt. Produziert aber werden vier Millionen.“ Macht 1,5 Millionen zu viel. Zum Zwangsvollstrecker der Kapazitätsanpassung haben sich inzwischen die Banken aufgeschwungen. Sie kürzen den Firmen, denen sie Zukunft absprechen, kurzerhand die Kreditlinie, so auch bei Wittkop. Vor der leeren Pförtnerloge treffen wir den Betriebsrat: „Die Kolleginnen und Kollegen haben keine Hoffnung mehr, wir wollen unser Geld sehen, damit wir wenigstens etwas von Weihnachten haben.“ Dann bitter an die Adresse des Chefs: „Hätten Sie eher die leerstehenden Hallen vermietet, wäre das nicht passiert. Sie haben in den letzten Monaten auf Zeit gespielt, es war schon seit Wochen klar, daß die Arbeitsplätze nicht gerettet werden. Jetzt ist die Zeit so weit fortgeschritten, daß die Kolleginnen und Kollegen bis Weihnachten nicht einmal ihr Arbeitslosengeld bekommen werden. Aber für Sie wird sich sicher irgendwo ein Plätzchen finden - für uns nicht.“ Der Chef murmelt irgendwas von „Hätten wir, hätten wir - hinterher sind wir alle klüger“ und zuckt mit den Achseln. Wittkop hat abgesattelt. DA RAUCHT DER SCHORNSTEIN