Wissenschaft im Kalten Krieg: Lernen, die Bombe zu lieben

Erforschen, wie man den Atomkrieg gewinnt: Eine Tagung in Hamburg beschäftigte sich mit dem Beitrag von Universitäten und Wissenschaft am Kalten Krieg.

Dominierte das Denken im Kalten Krieg: Die Atombombe. Bild: ap

HAMBURG taz | Im Hamburger Institut für Sozialforschung referierten und diskutierten während zweieinhalb Tagen 28 international ausgewiesene Fachleute über die Beziehung von "Geist und Macht in der Geschichte des Kalten Krieges" (Bernd Greiner). Die von Claudia Weber, Bernd Greiner, Tim B. Müller und Dierk Walter organisierte Tagung fragte nach dem Beitrag von Universitäten, Denkfabriken (Thinktanks), privaten Stiftungen sowie Regierungsstellen und Experten zum Kalten Krieg. Dieser brachte ja nicht nur richtigen Waffen in Stellung, sondern mobilisierte primär die Wissenschaft für Propagandafeldzüge und stimmte die Bevölkerungen darauf ein, einen Atomkrieg in Kauf zu nehmen oder unterzugehen.

Wie funktionierten Planung und Kontrolle in den Gesellschaften in Ost und West, und welche Chancen hatte das kritische Denken hüben und drüben in den Zeiten der intellektuellen Verbiesterung und der medialen Indoktrination?

Theorie mit Verwesungsgeruch

Die erste Theorie, die der Kalte Krieg hervorbrachte, war die in den 50 Jahren von Carl J. Friedrich und anderen erfundene Totalitarismustheorie. Sie spielte auf der Tagung keine Rolle mehr, denn die intellektuell dürftig fundierte Improvisation in politisch eindeutiger Legitimationsabsicht ist tot. Das Konstrukt, wonach Hitlers und Stalins Regime etwa gleich waren und nach 1945 im Westen "die" Freiheit und im Osten je nach Lesart "der Teufel", "der Terror" oder "die Diktatur" herrschten, ist definitiv der Verwesung überantwortet worden.

Mehrere Referenten berichteten über die Bedeutung und Funktion von Thinktanks und Experten in Ost und West. Während Experten im Westen mit ihren Kriegsszenarios, kybernetischen Modellen, politischen Analysen und Forschungsprojekten zur Raumfahrt oft direkten Zugang zur Macht und zur Öffentlichkeit hatten, blieben ihre Kollegen im Osten marginalisiert. Sie produzierten viele Papiere, Modelle und auch Softwareprogramme, die untereinander nicht kompatibel waren. Doch alles versickerte in der gefräßigen sowjetischen Bürokratie, sodass man von einer "Cyberbureaucracy" (Slava Gerovitch) sprechen kann.

Rebecca S. Lowen (USA) und Alexei Kojevnikov (Kanada) zeigten in ihren Referaten, dass die engen Beziehungen zwischen Regierung und Wissenschaft in den USA nicht erst nach, sondern schon im Zweiten Weltkrieg und davor zur Bewältigung der Krise von 1929 bestanden. Im Kalten Krieg wurden sie nur intensiviert, weil es vor und nach 1945 keine zivile nationale Wissenschaftspolitik gab. In den USA konnte das Militär im Bund mit Universitäten und privaten Stiftungen in die Lücke treten und wissenschaftliche Forschungsprojekte aller Art initiieren, bezahlen, kontrollieren und zum Teil in die Praxis umsetzen. An den Universitäten bildete sich so ein "Unternehmertum" heraus, das Forschungsgelder für die Waffen- und die Kommunikationstechnologie, aber auch für die Wirtschafts- und Sozialpolitik zu akquirieren verstand. Allerdings gab es 130 Universitäten - darunter Harvard und Yale -, die sich den Zumutungen von politisch instrumentalisierter Forschung widersetzten.

Verdienst der Friedensbewegung

Alexei Kojevnikov legte dar, dass die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung in der Sowjetunion erst spät entdeckt wurde und unter dem politischen Diktat stand, Optimismus zu verbreiten. Der größte Teil der Wissensproduktion im Kalten Krieg stand im Zeichen der Atomkriegsgefahr. Seit 1954 war klar, dass ein atomarer Weltkrieg nicht zu gewinnen war, sondern bestenfalls damit enden konnte, dass als Zweiter stirbt, wer mit dem Nuklearkrieg beginnt (Horst Afheldt/Dieter Senghaas). Es ist das Verdienst der Friedensbewegungen in Europa, dass die Kritik an den irrationalen Grundlagen der Abschreckungstheologie eine Massenbasis bekam und die offizielle Parole vom "Atomschirm" bloßstellte.

Auf der Gegenseite standen in den großen Thinktanks Denker wie Albert Wohlstetter von der Rand-Corporation. Sie sahen das Konzept der atomaren Abschreckung nicht als virtuellen Selbstmord, sondern als "Rettung". Unter dem Slogan "Interdisziplinarität" stellten sich die Forscher dem "Paradoxon" (Claus Pias, Wien), durch die Akkumulation von partiellem Fachwissen aus vielen Disziplinen eine Gesamtlösung zu basteln für ein komplexes Problem, zu dem es keinerlei Wissen gab und geben konnte: nämlich, wie man einen Atomkrieg vermeidet oder - wenigstens - gewinnt. Die "Lösungsvorschläge" von Wohlstetter und anderen transformierten Wissensfragen einfach in Glaubensfragen und damit ins Theologische, wie der New Yorker Historiker Ron Robin darlegte.

Spannend wurde die Debatte über die Frage von Paul H. Erickson (Connecticut), was die mathematische Spieltheorie oder die Modernisierungstheorie (Hunter Heyck, Oklahoma) mit dem Kalten Krieg zu tun hatten. Beide Theorien boten zwar auch rational fundierte Alternativen zum Fortschrittshokuspokus des nachstalinistischen Marxismus-Leninismus. Aber beide sind nicht frei von Ersatzirrationalismen: Die Spieltheorie macht psychische Dispositionen zur Basis rustikaler Entscheidungen über Krieg/Nichtkrieg und zu Rationalitätskriterien obendrein. Die Modernisierungstheorien sind geschichtsteleologisch grundiert - so als ob Marktwirtschaft, Demokratie, Konkurrenz und Profit den Menschen genetisch eingepflanzt wären. Mit diesen Thesen öffnete die Tagung den Blick auf lange verstellte Fragen wieder.

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