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Wirtschaftsweise rüffeln Regierung"Ohrfeige" für die Große Koalition

Die Regierung hat es versäumt, die Konjunktur zur Verbesserung der Wachstumsmöglichkeiten zu nutzen, kritisieren die Wirtschaftsweisen. Eine Strategie können sie nicht erkennen.

Einigkeit sieht anders aus: Sachverständigenrats-Chef Rürup und Kanzlerin Merkel Bild: dpa

BERLIN rtr/dpa/taz Die fünf Wirtschaftsweisen warnen die Regierung vor einem Reformstopp. Die gute Konjunktur sei bislang nur unzureichend für eine weitere Verbesserung der Wachstumsbedingungen genutzt worden, schrieb der Sachverständigenrat in seinem am Mittwoch veröffentlichten Jahresgutachten. "Vielmehr drohen richtige und wegweisende Reformen konterkariert, wenn nicht sogar zurückgedreht zu werden." Eine Verwässerung fürchten die Experten etwa bei der Rente mit 67, beim Arbeitslosengeld II und bei der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I. Bestehende Probleme wie die Neuverschuldung oder die Finanzierungsreform der Krankenversicherungen würden zudem ausgeblendet, weil sie in Zeiten des Aufschwungs weniger drängend erschienen.

Lässt der Reformwillen nach, engt das den Experten zufolge die künftigen Gestaltungsmöglichkeiten ein. "Gerade im gegenwärtigen, noch günstigen wirtschaftlichen Umfeld sollte die Politik daher die Weichen dafür stellen, die Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung zu sichern und auch in konjunkturell schwachen Zeiten handlungsfähig zu bleiben", hieß es.

Die fünf Wirtschaftsweisen

Einen ihrer hartnäckigsten Kritiker haben sich die Regierenden selbst geschaffen. Seit Jahr und Tag nehmen die fünf Wirtschaftsweisen in ihren Jahresgutachten die Politik der jeweiligen Bundesregierung aufs Korn. 1963 wurde der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung - so der korrekte Name - per Gesetz ins Leben gerufen. Zur "Urteilsbildung bei allen wirtschaftspolitisch verantwortlichen Instanzen sowie in der Öffentlichkeit", wie es darin heißt. Neben dem mitunter 1000 Seiten starken Jahresgutachten fertigen die Professoren auch Sonderexpertisen an, zuletzt zur Begrenzung der Staatsverschuldung.

Der Bund lässt sich die Beratung zwar einiges kosten. Häufig stoßen die Experten aber mit ihren Vorschlägen auf taube Ohren. "Manchmal gibt es doch zwischen Wissenschaft und Politik einen kleinen Unterschied", sagte Kanzlerin Angela Merkel im Vorjahr.

Berufen werden die Sachverständigen vom Bundespräsidenten auf Vorschlag der Regierung für die Dauer von fünf Jahren. Mehrere Amtszeiten sind möglich. Für jeweils einen Posten haben Gewerkschaften und Arbeitgeber ein Vorschlagsrecht. 40 Jahre lang blieb das Gremium eine Domäne deutscher Männer, ehe 2004 mit der Schweizerin Beatrice Weder di Mauro erstmals eine Frau und Ausländerin dazustieß. Vorsitzender des Rates ist der Darmstädter Professor Bert Rürup. Ihm zur Seite stehen neben Weder di Mauro noch der Regensburger Volkswirtschaftler Wolfgang Wiegard, ZEW-Präsident Wolfgang Franz und der Würzburger Professor Peter Bofinger. Ihnen hilft ein wissenschaftlicher Stab, der beim Statistischen Bundesamt in Wiesbaden angesiedelt ist.

Für einige Weise war die Mitarbeit im Rat ein Sprungbrett für höhere Weihen: Otmar Issing schaffte es zum Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Axel Weber zum Bundesbankchef.

Die Wissenschaftler bescheinigten der großen Koalition und ihrer rot-grünen Vorgängerregierung, in den Jahren 2001 bis 2006 wichtige Reformen auf den Weg gebracht zu haben. Als Beispiel werden die Hartz-Gesetze genannt. Derzeit sei eine klare wirtschaftspolitische Strategie aber nicht mehr erkennbar. "Große Politik erfordert nicht immer große Würfe", schrieben die Wirtschaftsweisen. Auch eine Politik der kleinen Schritte könne eine gute Politik sein, "vorausgesetzt diese kleinen Schritte gehen in die gleiche Richtung und folgen einer in sich geschlossenen Konzeption".

Bundeskanzlerin Angela Merkel versuchte Befürchtungen zu zerstreuen, die Große Koalition rücke vom bisherigen Reformkurs ab. "Wir werden das Erreichte nicht verspielen", sagte die CDU-Chefin am Mittwoch im Berliner Kanzleramt, als ihr das Jahresgutachten der fünf Wirtschaftsweisen überreicht wurde.

FDP-Parteichef Guido Westerwelle bewertete das Jahresgutachten als "schallende Ohrfeige" für die Regierung. Es sei falsch, dass sich die große Koalition von den Reformen verabschiedet habe, sagte Westerwelle am Mittwoch in Berlin. Das Herbstgutachten der Wirtschaftsweisen sei eine "Mahnung zur Umkehr" zurück zur sozialen Marktwirtschaft.

Wenig optimistisch fällt auch die Einschätzung der Wirtschaftsweisen zur Weltkunjunktur aus: Diese werde im kommenden Jahr auch wegen der Finanzmarktkrise an Fahrt verlieren. Die USA blieben voraussichtlich mit einem Wachstum von zwei Prozent unterhalb ihrer langfristigen Möglichkeiten, schrieben die Wissenschaftler in ihrem am Mittwoch vorgelegten Jahresgutachten. Auch im Euro-Raum werde die Dynamik nachlassen und die Wirtschaft nur noch um 2,1 Prozent zulegen. Mit einer Rate von 2 Prozent werde Frankreich dabei voraussichtlich an Deutschland knapp vorbeiziehen.

Dass es weltweit 2008 nicht zu einem Konjunktureinbruch kommen wird, ist nach Ansicht der Experten maßgeblich China und anderen aufstrebenden Schwellenländern Asiens zu verdanken. Diese würden sich weiterhin als "globale Konjunkturlokomotiven" erweisen, prognostiziert der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in seinem über 600 Seiten starken Bericht.

Die Finanzmarktkrise habe die USA und viele europäische Länder hingegen in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung beeinträchtigt und werde auch 2008 nachwirken. Auch die Immobilienkrise in den USA sei noch nicht ausgestanden. Der im historischen Vergleich ungewöhnlich hohe Bestand von rund einer halben Million unverkaufter Häuser sei eine große Belastung für den Markt. "Dieser wird auch dadurch beeinträchtigt werden, dass es im nächsten Jahr zu einer Welle von Zinsanpassungen, insbesondere im Bereich von Subprime-Hypotheken, kommen wird", heißt es in dem Gutachten. Die dadurch erzwungenen Zwangsversteigerungen würden die ohnehin schon rückläufigen Immobilienpreise zusätzlich unter Druck setzen.

Für das Boomland China sehen die Wissenschaftler zwar eine leichte Verlangsamung des Wachstums, das mit rund zehn Prozent aber noch sehr kräftig ausfallen werde. Zugleich mehrten sich Anzeichen einer Überhitzung, insbesondere auf den Vermögensmärkten. "Das grundlegende Problem der Wirtschaftspolitik dieses Landes besteht darin, dass der Versuch, den Wechselkurs der Landeswährung gegenüber dem US-Dollar zu kontrollieren, mit einer tendenziell zu expansiven Geldpolitik einhergeht", kritisierten die Weisen.

Der konjunkturelle Ausblick für den asiatischen Rivalen Japan fällt weit skeptischer aus. Trotz der Abwertung des Yen und einer sehr guten Weltkonjunktur sei es der japanischen Wirtschaft nicht gelungen, sich endgültig aus einer nahezu deflationären Situation zu befreien. Auch im kommenden Jahr werde sich das Expansionstempo verlangsamen.

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1 Kommentar

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  • MW
    Matthias W

    Dass das neoliberale einheizen der hohen Experten hier völlig kritiklos wiedergegeben wird, ist ein armutszeunis für die taz.

     

    Die wirtschaftswissenschaftliche Ideologie als kritische INstanz gegenüber der Regierung darzustellen, zeugt von einer höchst unkritischen Haltung dem herrschenden wachstumsfetischistischen Mainstream gegenüber.

     

    FAZ und SZ hättens nicht "besser" machen können!

     

    vG

    MW