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Wirklich hart ist die Sucht selbst

■ betr.: „Tag und Nacht steht die Tür offen“ (25 Jahre Synanon), taz vom 18.9. 96

Der oben genannte Artikel bestätigt meine Erfahrung, die ich in über 16 Jahren Arbeit in der Suchthilfe (hier: Bezirksamt Schöneberg) immer wieder gemacht habe: Mit Synanon tut sich die linke, alternative oder irgendwie progressive Szene sehr schwer. Während jeder Aufruf zur Drogenfreigabe mindestens neutral, meist aber wohlwollend kommentiert wiedergegeben wird, fällt der taz beim Thema Synanon immer wieder der Uraltvorwurf der „Gehirnwäsche“ ein. Auch an die Latzhosen und die kurzen – übrigens nicht roten – Haare der Anfangsjahre wird immer wieder gern erinnert.

Die taz kommt anscheinend mit dem folgenden nicht klar: Bei Synanon helfen Süchtige sich selbst bei ihrem Ausstieg aus dem Drogenkonsum – und das seit 25 Jahren mit großem Erfolg. Und: Synanon propagiert ein Leben ohne Drogen. Das Programm ist – am Anfang – angeblich hart. Aber was heißt eigentlich „hart“ im Zusammenhang mit „Sucht“? Wirklich hart ist doch die Sucht selbst, die Drogenszene, die ständige Jagd nach Geld oder nach der Droge etc. Auch das kann man ja hin und wieder in der taz lesen, zuletzt am 10.5.: „Jeder Fick gibt einen neuen Druck“. Synanon ist sicher nicht das einzige gute Angebot für Süchtige. Aber Synanon ist so niedrigschwellig, daß es sogar der taz aufgefallen ist: 24 Stunden täglich kann jeder kommen – und gehen.

Bei Synanon wird vieles einfach nicht wahrgenommen oder schlicht negiert. Warum steht nichts in dem Artikel über

– die Lebensgemeinschaft Synanon, wo viele Süchtige mit wenigen Nicht-Süchtigen zusammenleben und -arbeiten,

– die dortige Orientierung an antroposophischen Ideen,

– die psychohygienische und therapeutische Funktion des „Spiels“,

– die vielen kleinen und erfolgreichen Betriebe, die vor allem eins gemeinsam haben: Qualitätsprodukte, orientiert an ökologischen Kriterien? Jürgen Lindenau

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