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„Wir reden nur mit Genosse Michail“

■ Nichtestnische Arbeiter Estlands streiken / Ausstand wegen diskriminierendem neuen Wahlrecht

Moskau (ap) -Die russischen und anderen nichtestnischen Arbeiter in vielen Industriebetrieben Estlands sind auch am Freitag der Arbeit ferngeblieben. Sie trotzten damit einem am Donnerstag vom Präsidium des Obersten Sowjets der Estnischen Sowjetrepublik erlassenen Dekret, mit dem der sofortige Abbruch des Streiks verfügt und der Ministerrat in Tallinn (Reval) aufgefordert wurde, für das störungsfreie Funktionieren der estnischen Volkswirtschaft zu sorgen. In dem Dekret werden für den Fall einer Fortsetzung des Streiks nicht näher bezeichnete strafrechtliche Schritte angekündigt. Die Streikenden lehnten es im übrigen ab, mit estnischen Stellen zu verhandeln, sondern wollten nur direkt mit Moskau reden. Nach einem Bericht der Moskauer 'Iswestija‘ herrsche „wachsende Entfremdung“ zwischen Esten und Nichtesten. Das Blatt schrieb, auf einem Platz im Zentrum der estnischen Hauptstadt Tallinn hätten Esten eine Trauerkundgebung für einen Jugendlichen veranstaltet, der am Samstag abend bei einer Schlägerei mit einem Russen zu Tode gekommen war.

Auf Transparenten habe es geheißen: „An dieser Stelle hat ein betrunkener Russe aus Moskau einen estnischen Jugendlichen umgebracht.“

Der Ausstand richtet sich gegen das am Dienstag vom Obersten Sowjet Estlands verabschiedete Wahlrecht, das von Angehörigen der nichtestnischen Minderheit, die fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht, als diskriminierend betrachtet wird. Nach dem neuen Gesetz dürfen künftig nur solche Bürger in Estland das Parlament wählen oder bei Kommunalwahlen abstimmen, die mindestens zwei Jahre in ihrem Wahlkreis oder fünf Jahre in Estland wohnen. Wenn sie sich selbst als Kandidaten aufstellen lassen wollen, müssen sie mindestens fünf Jahre in ihrem Wahlkreis oder zehn Jahre in Estland wohnen.

Ein Mitglied der Streikleitung, Arthur Kopykin, sagte, solange Moskau keine Verhandlungen mit den Streikenden aufnehme, könne von einem Ende des Ausstands keine Rede sein.

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