■ Wir lassen lesen: Chinas Mysterien
Der Sport in China ist hierzulande ein Mysterium. Bei der Fußball-WM waren sie nicht, Olympia 2000 haben sie nicht bekommen, aber Gerüchte, weil sie so schnell laufen, die gibt es zuhauf. Der Journalist Rolf von der Laage hat die Doping-Gerüchte als Anlaß seiner Recherche genommen. Als chinesische Läuferinnen im letzten Halbjahr 1993 mit Fabelweltrekorden aufhorchen ließen, hagelte es Anklagen. Und Versuche, sich dieses komplizierten Sportsystems anders denn mit feststehenden Anklagen zu nähern, fanden nahezu kein Gehör mehr.
Dabei ist es doch viel spannender, sich einmal die vielschichtigen Formen des chinesischen Sports anzuschauen. Wie spät, erst nach der Jahrhundertwende, man in China mit organisiertem Sport begann. Wie widersprüchlich nach Ausrufung der Volksrepublik sich der Sport und die Sportpolitik entwickelten. Wie man zwar an Tischtennis-Weltmeisterschaften teilnahm, aber das Olympische Komitee und alle anderen Verbände verließ, die Taiwan als chinesischen Vertreter akzeptierten. Wie anfangs der 70er Jahre der Sport im Rahmen der „Pingpong-Diplomatie“ ein wichtiger Hebel wurde, um – gegenüber Taiwan – internationales politisches Renommee zu erhalten.
Laage beschreibt, wie sich in diesem langen Prozeß ein vielschichtiges Sportsystem herausbildete, dessen erfolgreichste Wurzeln in den ländlichen Regionen angesiedelt sind. Sport als eine von sehr wenigen Optionen, die Welt kennenzulernen, eine mit traditionellen Lebensmustern weitgehend kompatible Leistungsbereitschaft junger Chinesen und Chinesinnen, eine straffe Talentauswahl und -förderung, die einhergeht mit dem Einsatz von gut ausgebildeten Trainern in den ländlichen Provinzen – all das sind Gründe, die für den gegenwärtigen chinesischen Erfolg mit entscheidend sind. Die Schwierigkeiten, sich dem Sportsystem eines so großen Landes mit einer, gegenüber der westlichen, gänzlich anderen kulturellen Tradition zu stellen, sind Laage bewußt. Um die Dimensionen klar zu machen, schlägt er vor, China nicht mit anderen westlichen Ländern, sondern mit Europa insgesamt zu vergleichen, chinesische Meisterschaften also von ihrer Wertigkeit her mit Europameisterschaften gleichzusetzen und den Umfang der Talentförderung genauso.
Das Thema ist längst nicht erschöpfend behandelt. Einerseits ist es noch nicht genügend erforscht, andererseits ist der Sprung, zu dem die chinesischen Sportlerinnen und Sportler ansetzen, erst in Ansätzen zu sehen. Rolf von der Laage hat aber für ein erstes Verständnis Chinas und seiner Rolle im Weltsport ungeheuer viel Material zusammengetragen. Einzig der reißerische Buchtitel stört. Martin Krauß
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