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Wir lassen lesenGrößte Träume und bitterste Konflikte

■ Das Lateinamerika-Jahrbuch widmet sich einem frivolen Thema: dem Sport

Wer je das bis zu 30 Sekunden dauernde „Goooooool“ lateinamerikanischer Sportreporter gehört hat oder als deutscher Gringo hoch in den Anden wie selbstverständlich als Beckenbauer, Matthäus oder Klinsmann angesprochen wurde, weiß, welche Rolle der Sport, in Sonderheit der Fußball (aber regional auch Radfahren, Volleyball, ja selbst Cricket), vom Rio Grande bis Feuerland spielt. Es ist dem seit 19 Jahren erscheinenden, verdienstvollen Lateinamerika-Jahrbuch hoch anzurechnen, daß es das „pflichtbewußte Unbehagen über die mögliche Frivolität dieses Themas“ heroisch unterdrückt und in seiner neuesten Nummer „Sport und Spiele“ zum Schwerpunktthema gemacht hat.

Von einer „Sozialgeschichte des brasilianischen Fußballs“ über eine ausgesprochen erhellende Analyse der „Fußballidentitäten“ bei den Fanclubs von Alianza und Universitario in Lima bis zu Berichten über den Zusammenbruch der weißen Mythen angesichts des (schwarzen) Crickets in der Karibik, solch klassische Sportarten wie das Pelotaspiel (tlachtli) der Mayas und die indianischen Wunderläufer der Rarámuri in Nordmexiko präsentiert das Jahrbuch eine durchaus in die Tiefe gehende Sportschau des Subkontinents. Neben Figuren wie Pelé, Dunga, Carlos Valderrama und dem (verhinderten) Baseballstar Fidel Castro werden dabei auch verdiente Athleten wie Antonio Gramsci oder Max Weber bemüht, um den Sport als das „zentrale Massenphänomen“ Lateinamerikas zu beschreiben, „in dem sich die Gesellschaften spiegeln, ihre größten Träume wie ihre bittersten Konflikte“.

„Das Stadion ist ein hervorragendes Ventil für das Fehlen des historischen Optimismus“, schreibt Carlos Monsiváis in seinen Notizen zur Fußball-WM 1986. „Wir waren nicht dabei, als in Tenochtitlán gefeiert wurde, wie die Spanier in der Noche Triste wimmerten ... Wir erlebten nicht die Einnahme von Torreón mit und auch nicht, wie Emiliano Zapata und Pancho Villa Einzug in die Hauptstadt hielten. Die meisten von uns waren noch nicht geboren, als Lázaro Cárdenas die Ölindustrie nationalisierte. Aber jetzt endlich erleben wir etwas Handfestes, Greifbares, mit Exaktheit Feststellbares: Mexiko: 2 – Bulgarien: 0“. Prägnanter lassen sich Größe und Tragik des lateinamerikanischen Sports nicht zusammenfassen.

Wie Sport, Politik und Gesellschaft ganz konkret miteinander verbandelt sein können, beschreibt Ciro Krauthausen am Beispiel Kolumbiens. Dabei geht es nicht nur um das historische 5:0 der Kolumbianer gegen Argentinien am 5.11. 1993, das kurzzeitig zu einer Art nationalem Rausch führte, der dann in dem schmählichen Debakel sein Ende fand, das die Helden von Buenos Aires knapp ein Jahr später bei der WM in den USA erlitten. Es geht auch um die Funktion, die der Sport in Kolumbien für die aufstrebende Drogenbourgeoisie hatte und hat. Um populär zu werden, spendeten die „Mágicos“ der Drogenkartelle seit Ende der 70er Jahre immer wieder Sportplätze, Trikots und Turnierpreisgelder für die Armen. Und um ihre Narcodollars zu waschen und in die Elite der sogenannten guten Gesellschaft Kolumbiens vorzudringen, kauften sie den kolumbianischen Profifußball regelrecht auf. Die Ermordung des Eigentorschützen der WM Andrés Escobar in Medellin wirkte – wer immer auch dahinter stand – wie ein schreckliches Memento: „Die nationale Sportgemeinschaft hatte sich als Traum entpuppt. Der Alptraum, das war die Realität.“ Sport und Spiele haben in Lateinamerika viele Facetten. Das neue Jahrbuch zeigt, wie lohnend es sein kann, sich damit zu beschäftigen. Thomas Pampuch

Lateinamerika, Analysen und Berichte 19: Sport und Spiele; 272 S.; DM 29,80; Horlemann 1995, ISBN 3-89502-033-8.

Derselbe Verlag bietet eine ganze Reihe neuer Bücher zu lateinamerikanischen Fragen an.

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