Wimmelbücher von Ali Mitgutsch: Guckloch in eine eigene kleine Welt
Ali Mitgutschs Wimmelbücher sind Klassiker, längst schauen seine ersten Leser mit ihren Kindern und Enkelkindern seinen Figuren beim Wuseln zu. Nun wird der Zeichner 75 Jahre alt.
Im Regal fallen die Bücher von Ali Mitgutsch kaum auf. Schlank und dünn stehen sie da drin. Aber wenn man sie herauszieht und aufschlägt, sind sie ein Guckloch in eine eigene kleine Welt. Die Wimmelbildwelt von Ali Mitgutsch. Dutzende Personen tummeln sich da auf jeder Seite, in jedem Eckchen ist eine eigene kleine Szene versteckt.
Seine Figuren rennen, verkleiden sich, knutschen, pinkeln, ärgern die Eltern, lachen, krabbeln, streiten. Alles gleichzeitig und alles durcheinander. Um all das zu erzählen, braucht Mitgutsch keinen einzigen Satz - die kleinen Geschichten, die in seinen Bildern versteckt sind, erzählen sich ohne Worte.
So wie ein Besuch im überfüllten Schwimmbad. "Das ist ja für Kinder unheimlich lustig, weil da tausend Dinge passieren", sagte Mitgutsch einmal in einem Interview. So überreich wirken auch seine Bilder: So wie vollgepfropfte Badeanstalten auf Erwachsene abschreckend wirken können, so laufen sie Gefahr, von Mitgutschs Bildern erschlagen zu werden. Zu viel Gewimmel zwischen zwei Pappen.
Dieser Text stammt aus der aktuellen sonntaz vom 21./22. August - ab Samstag zusammen mit der taz am Kiosk oder in Ihrem Briefkasten.
Nostalgie und Idylle
Doch gerade diese Wimmelbilderbücher waren es, die Mitgutsch bekannt machten. Seit über fünfzig Jahren zeichnet er großformatig für Kinder. Und prägte die Kindheit vieler so stark, dass eine Menge Erwachsene nostalgisch werden, wenn sie sich daran erinnern, wie sie selbst als Kinder hinter den großen Mitgutsch-Büchern fast verschwanden - so stark war die Faszination für das Gewusel, so viel war zu entdecken. Viele erinnern sich auch daran, wie sie Mitgutschs Bilderwelten mit ihren Kindern erlebten.
Kaum ein Buch wird die Vorstellung einer Bauernhofidylle so stark geprägt haben wie das Gewimmel aus suhlenden Schweinen, beißenden Gänsen, Heuschobern und Traktoren aus Mitgutschs "Bei uns im Dorf". Szenen, die der Zeichner vielleicht noch auf seinem eigenen Allgäuer Vierseithof beobachtet hat, den er erst vor wenigen Jahren schweren Herzens verkauft hat. Und kaum ein anderes animierte so viele Kinder, sich ausführlich mit der Schiffstechnik von Einmastern und Atom-U-Booten zu beschäftigen wie Mitgutschs "Rund ums Schiff".
Vielleicht liegt das daran, dass seine Bilder trotz der ganzen Naivität frecher und anarchischer sind als die vieler nachgewachsenen Zeichner wie der ebenfalls sehr erfolgreichen Rotraut Susanne Berner, deren Wimmelbilder viel rationaler und aufgeräumter daherkommen.
In Mitgutschs Bildern dürfen sich Kinder wie Erwachsene auch mal danebenbenehmen - jemanden auslachen, der in den Kuhfladen tritt, hinter einen Busch pinkeln, nackt baden, andere mit Wasser vollspritzen. Kurz: sich so benehmen, wie es Kindern einfach Spaß macht. Jenseits von erwachsenen Das-darfst-du-nicht-Normen, aber auch weit entfernt davon, richtig Böses zu tun. Lausbübische Späße eben.
Bei so vielen Büchern, wie Mitgutsch verkauft, bleibt natürlich auch das Gemäkel nicht aus. Er zeichne zu viel heile Welt, wird ihm vorgeworfen. Zu viel Lustiges, Unbekümmertes. "Stimmt, ich würde kein Buch über meine Trümmerkindheit malen, und ich habe nie ein Interesse gehabt, graue Wolken und abgestorbene Wälder zu zeigen", sagt Mitgutsch einmal in einem Interview. Darum ringt er in seinen Bildern selbst bösen, schimpfenden Omas etwas Komisches, Niedliches ab. "Ich bin ein hoffnungsvoller Mensch, auch wenn es nicht immer einen Grund dazu gibt."
Rückzug in die Fantasie
Tatsächlich scheint die anarchische Fröhlichkeit seiner Bilder mit seiner eigenen, nicht ganz so fröhlichen Kindheit zusammenzuhängen - denn so tauchte er tief ein in seine Fantasiewelten. Ähnlich wie beim Kinderbuchautor Janosch, dessen Kindheit auch nicht gerade glücklich war: geprägt von einem autoritären Vater und der streng katholischen Erziehung.
Mitgutsch wurde 1935 in München-Schwabing geboren und auf den Vornamen Alfons getauft. Während des Zweiten Weltkriegs floh seine Familie vor den Bombennächten aufs Land, in einen winzigen Ort im Allgäu.
Weil er in der Dorfschule von seinen Mitschülern gehänselt wurde, zog er sich mehr und mehr in eine Fantasiewelt zurück und erträumte sich zwei Freunde, mit denen zusammen er Abenteuer erlebte.
Nach Kriegsende kehrte die Familie ins zerstörte München zurück, litt Hunger, hatte Mühe, sich durchzuschlagen. Schon als Kind bekam Mitgutsch seinen Spitznamen Ali - wegen seiner lockigen schwarzen Haare.
Wenn Mitgutsch von seiner Kindheit erzählt, spricht er oft von den Geschichten, die seine Mutter sich für ihn ausdachte. Um ihre Kinder dazu zu bringen, sie auf ihren Wallfahrten zu begleiten, erzählte sie ihnen auf den langen Wanderungen detailreiche Geschichten, um sie zum Weiterlaufen zu animieren. Und wendete die Erzählungen ins Gute, wenn ihr Sohn sie darum bat. Am Zielort gab sie den Kindern zwanzig Pfennig, die Alfons in Schaukästen mit beweglichen Figuren, segnenden Jesusfigürchen und hackenden Holzfällern steckte.
Diese mütterliche Liebe zum Detail prägte Mitgutsch stark - in jedem seiner Bilder kann sie bestaunt werden. Gerade weil diese nicht betextet sind, weil keine der zahlreichen Figuren auf Mitgutschs Bildern allein bleibt, sondern alle in ständiger Interaktion miteinander stehen, regen die Zeichnungen die Fantasie an: von Kindern, die sich die Bücher allein anschauen, aber auch von Eltern, die sich immer neue Geschichten zu dem Gewusel ausmalen können. Vielleicht sogar welche, die sie sich ausgedacht haben, als sie noch klein waren und in Mitgutschs Bilderwelten eingetaucht sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos