Wikipedia überaltert: Wissen ohne Nachwuchs

Das Wissen der Welt soll gesammelt werden, aber sammeln tun nur wenige: Wikipedia hat ein Nachwuchsproblem. Langjährige Autoren machen Neulingen teilweise das Leben schwer.

Bei dem Versuch, an der Wikipedia mitzupuzzlen, sind nur wenige ausdauernd. Bild: dpa

BERLIN taz | "Jeder kann mit seinem Wissen beitragen", steht auf der Startseite der Wikipedia. Im Prinzip ist es sehr einfach, an den Artikeln der Online-Enzyklopädie mitzuarbeiten. Interessenten müssen sich nicht einmal anmelden, um neue Artikel anzulegen, bestehende Texte zu ergänzen oder falsche Informationen zu korrigieren.

Dennoch hat das Projekt 10 Jahre nach Gründung ein Nachwuchsproblem. Bereits vor zwei Jahre machten Meldungen über einen massiven Autorenschwund die Runde. Während die Leserzahlen auf mittlerweile 400 Millionen pro Monat kletterten, beteiligte sich nur noch ein kleiner Bruchteil an der Artikelarbeit. Hinzu kommt ein bemerkenswerterhttp://www.taz.de/1/netz/netzkultur/artikel/1/wissen-fuer-alle-aber-nur Frauenmangel: nur 13 Prozent der Autoren waren nach einer aktuellen Erhebung weiblich.

Wikipedia entzieht sich einer detaillierten Statistik: Da sich Autoren nicht anmelden müssen, ist nicht einmal klar, wie viele Wikipedianer es gibt. Selbst wer sich anmeldet, muss weder Geschlecht, noch Alter angeben. In einer neuen Studie wird die Zahl der aktiven Nutzer auf monatlich 80.000 bis 90.000 veranschlagt. Darunter sind zirka 10.000 Nutzer, die wenigstens 100 Änderungen im Monat vornehmen und damit den Haupt-Teil der Arbeit schultern. Millionen Artikel müssen ständig überprüft, sortiert und aktualisiert werden.

Kaum etwas ist noch unabgedeckt: Konstruktive Beiträge werden schwieriger

Kernfrage der neuen Untersuchung war: wie lange bleiben Wikipedia-Autoren aktiv? Die ersten Ergebnisse zeigen, dass das Durchhaltevermögen der freiwilligen Autoren zwischen 2005 und 2007 stark abgenommen hat. Blieben in der englischsprachigen Wikipedia 2004 knapp 40 Prozent der Autoren dem Projekt mehr als ein Jahr lang treu, sind es bei den seit 2007 hinzugekommenen Autoren nur noch circa 10 Prozent. In den anderen Sprachausgaben sieht es nicht besser aus. Folge: die Alt-Wikipedianer müssen die Projekt-Arbeit auf der Plattform erledigen.

Die Gründe für den gesunkenen Enthusiasmus sind vielseitig. So ist es heute wesentlich schwerer als in den Anfangsjahren, konstruktiv zur Wikipedia beizutragen. Allein die deutschsprachige Wikipedia enthält mehr als 1,2 Millionen Artikel – es gibt kaum Themen, die nicht bereits abgedeckt sind. Gleichzeitig sind die Qualitätsanforderungen stark gestiegen. Genügte es in den ersten Jahren einen Artikel mit einem Satz zu beginnen, müssen Neuautoren in der Wikipedia heute die Relevanz ihres Artikelthemas nachweisen. Hinzu kommen Quellennachweise, Formatvorlagen und Geoinformationen, die in Artikel eingebaut werden müssen, um dem kritischen Blick der Alt-Wikipedianer zu bestehen.

Die altgedienten Autoren tun sich schwer, Neulinge zu integrieren

Die Arbeitsatmosphäre ist zum Teil gereizt. So berichtet Wikipedia-Administrator „Sicherlich“ von einem kleinen Experiment, bei dem er sich als neu angemeldeter Nutzer tarnte. Mit beunruhigendem Ergebnis: Was vorher kein Problem war, wurde ihm plötzlich schwer gemacht. "Als neuer Benutzer wird man mit teilweise sehr merkwürdigen Gründen revertiert", Adminkandidaturen/Sicherlich&oldid=86872341#Sicherlich“:berichtet Sicherlich, „Sachargumente werden ignoriert oder - ganz besonders spaßig - mit Verweis auf diverse Regeln abgebügelt“. Diese Entwicklung ist Gift für die Motivation der unbezahlten Autoren: Viele von ihnen kehren der Wikipedia den Rücken.

Die Entwicklung ist auch den Betreibern der Enzyklopädie nicht verborgen geblieben. Sue Gardner, Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation, zieht eine kritische Zwischenbilanz. "Unsere Communities altern". Eine Ursache sieht Gardner in dem so genannten Ewiger-September- Phänomen: "Eine bestehende Community ringt damit, Neulinge zu integrieren, während sie gleichzeitig bemüht ist, ihre Arbeit aufrechtzuerhalten", schreibt Gardner. Ergebnis seien Verteidigungsmechanismen wie zum Beispiel halbautomatisches Revertieren von Änderungen oder ein Regelwerk, das für Neulinge kaum zu durchschauen ist. Das ehemals sehr offene Enzyklopädie-Projekt hat soziale Barrieren aufgebaut, um vermeintliche Störenfriede abzuhalten. Dabei werden aber auch wohlmeinende Autoren abgeschreckt.

Mit ständig neuen Projekten versucht die Wikimedia Foundation neue Autoren für die Wikipedia zu gewinnen. Konzentrierten sich die Wikipedianer zunächst auf die Zielgruppe der Akademiker, die dem Projekt hochqualitative Inhalte zuliefern sollten, richtet sich jetzt der Blick auf andere Autoren-Gruppen. Wikipedia-Aktivisten versuchen an Schulen den richtigen Umgang mit der Online- Enzyklopädie zu lehren, ebenfalls sollen Senioren ermutigt werden, ihren Wissensschatz zu teilen. Sue Gardner setzt auch auf technische Lösungen. Das Ändern von Artikeln soll mit einem neuen Autoren-Werkzeug vereinfacht werden – allerdings wartet die Community auf eine Umsetzung dieses Projekts schon mehrere Jahre.

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