Wieso sich die wilhelmsburger*innen über Fahrraddiebstahl nicht mal mehr richtig ärgern: Netflix und der Regen waren schuld
Inselstatus Leyla Yenirce
Liebe Insel, ich kann es ja irgendwie verstehen. Wer sein kostbares Rennrad über Nacht draußen stehen lässt, ist selbst schuld. Aber hätte man mir nicht wenigstens das bisschen Würde lassen und das zerbrochene Schloss in den Busch werfen können? Stattdessen lag es da, entzweit und leblos am Boden als Relikt meiner Nachlässigkeit. Ätschibätsch! wollten mir die Diebe damit wohl sagen. Aber ja, es ist halt ein Nehmen und Geben mit den Fahrrädern in der Großstadt und selbst wer doppelt und dreifach abschließt, ist vor keinem/keiner Dieb*in sicher, denn der Bolzenschneider bekommt sie alle.
Bemerkenswert ist: Fahrraddiebstahl ist für mich so normal geworden sind, dass ich mich nicht Mal mehr richtig darüber ärgern kann. Denn in meinem Leben habe ich mit Sicherheit schon mehr als 20 Räder besessen und ich weiß mittlerweile, dass ich lieber nicht zu viel ausgebe, denn das neue Rad könnte am nächsten Tag weg sein. Traurig ist: Wer in Wilhelmsburg lebt, hat es ohne Rad schwer. Trotzdem rate ich, nicht allzu lange zornig zu sein, sondern sich einfach ein neues Rad zu besorgen.
Wer Glück hat, findet sein oder ihr Rad ein paar Straßen weiter in einem Busch, weil jemand Betrunkenes einfach nur irgendwie nach Hause kommen wollte und das Rad auf halber Strecke dann doch hat liegen lassen. Wer Pech hat, ist dem organisierten Diebstahl zum Opfer gefallen und kann im besten Falle das Rad ein paar Tage später bei Ebay Kleinanzeigen zurückkaufen, wo es unter einem Pseudonym verscherbelt wird – alles schon erlebt.
Manche Diebe werden auch richtig kreativ, so wie bei meiner Nachbarin, die ihr Rad wenige Tage nach dem Diebstahl in frischem Lack und mit anderen Schloss vor der Tür fand. In solchen Moment kann man sich freuen und mit gutem Gewissen zurückstehlen. Gehörte ja eigentlich einem selbst.
Es ist nie ein schönes Gefühl, bestohlen zu werden, aber noch unschöner ist, dass manche Menschen zum Überleben stehlen müssen oder das Bedürfnis haben, etwas zu stehlen. Es wäre ja schön, wenn wir hier alle so wohlständig wären, dass wir unbekümmert unsere Räder draußen stehen lassen können, weil wir wissen: Es geht den Menschen so gut geht, dass sie es gar nicht nötig haben, jemandem etwas wegzunehmen. Aber leider leben wir ja nicht in Utopia.
Deswegen trage ich es dir und deinen Bewohner*innen das auch nicht lange nach, liebe Insel. Stattdessen rüge ich lieber mich selbst. Ich weiß, dass ich zu faul war. Ich hätte mein Rad auch noch in den Hausflur stellen können, aber dann war Netflix schon an und draußen hatte es so dolle geregnet.
Leyla Yenirce ist Kulturwissenschaftlerin und schreibt wöchentlich aus Wilhelmsburg über Spießer*innen, Linke, Gentrifizierer*innen und den urbanen Wahnsinn in der Hamburger Peripherie.
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