Wiederholungsgefahr nicht gegeben?

Die Lage des Theaters und Wagners Oper „Liebesverbot“ in Magdeburg  ■ Von Frieder Reininghaus

Die großen Einschnitte der neueren deutschen Geschichte bekamen dem Theater in Magdeburg nicht gut. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs sank das schöne alte Stadttheater gegenüber dem Hauptbahnhof in Trümmer. In der Nachkriegszeit zogen alle drei Sparten in das zuvor als Operettenbühne dienende Gebäude am Universitätsplatz. Bei diesem Notbehelf blieb es. In den achtziger Jahren wurden zwar in bescheidenem Umfang Modernisierungen vorgenommen. Doch als die DDR den Geist aufgab, war das Unternehmen in jeder Hinsicht heruntergewirtschaftet.

Ein Etat von 10,2 Millionen Ostmark war selbst angesichts des real existierenden Lohn- und Gagenniveaus völlig unzureichend; Häuser vergleichbarer Größenordnung im Westen müssen mit 30 bis 60 Millionen DM pro Jahr bezuschußt werden. An das Engagement namhafter, gar international gehandelter Sänger für große Rollen war in Magdeburg nicht zu denken, auch wenn Siegfried oder Brünnhilde zu besetzen waren. Auch sonst ließ sich nicht an eine Theaterarbeit denken, welche die Fühler etwas weiter ausstreckte. Das sollte sie wohl auch nicht. Intendant Karl Schneider, Mitglied der SED- Bezirksleitung, sorgte dafür, daß sein Betrieb den Genossen nach Möglichkeit keinen Ärger machte. Sie konnten sich im Großen Haus an einem in hohem Maß aus Lehár, Künneke, Dostal und Millöcker gefügten Programm erbauen und an bieder-miefig-spießigen Inszenierungen ergötzen.

Freilich trieb der Wille zum Renommieren, der nach der Berliner Zentrale auch die Köpfe etlicher Bezirksfürsten ergriff, das Magdeburger Theater kurz vor der Toröffnung der DDR zu Richard Wagners Ring des Nibelungen. Dieter Reuscher aus Cottbus durfte in Einfachausstattung inszenieren. Die gewaltige musikalische Herausforderung bestand der altgediente GMD Roland Wambeck mit den am Ort zu Verfügung stehenden Kräften — und, wie man hört, einigermaßen achtbar. Bis zum Siegfried gelangte das ehrgeizige Vorhaben. Vor den Proben zum vierten Ring-Teil, kurz nach der „Wende“, war Götterdämmerung: Während einer Mittagspause und bei geöffnetem eisernem Vorhang brannte das Bühnenhaus lichterloh. Der Qualm schwärzte große Teile des Theaters. Der Schaden beläuft sich auf viele Millionen. Doch davon später.

Kämpfer für die DDR-Identität

Beim Sprechtheater wurde auf andere Weise gezündelt. Zwei Jahre vor der Implosion des Arbeiter-und- Bauern-Staates setzte ein Gastregisseur aus Ost-Berlin in Magdeburg Heiner Müllers Auftrag in Szene — Wolf Bunge, Sohn des Schriftstellers, Brecht- und Eisler-Freundes Hans Bunge. Der in Magdeburg lebende Theaterkritiker Friedemann Krusche beschrieb anschaulich, daß es Bunge „1987 wie Heiner Müller 1972“ erging — er wurde „zur Persona non grata, bekam nichts mehr zu tun, obwohl das Ensemble hinter ihm stand. Die weithin zur Propagandamaschinerie heruntergekommene lokale Theaterkritik schoß sich auf den Auftrag ein.“

Eine Provinzposse der possierlichsten Art: Wer sich vom öffentlichen Gegenwind nicht schrecken ließ und die Auftrags-Inszenierung aller Anfeindung zum Trotz dennoch sehen wollte, dem wurde „an der Theaterkasse hinter vorgehaltener Hand mitgeteilt, die Inszenierung sei miserabel, man rate vom Besuch dringend ab“. In solchem abratenden Milieu hielt es den Schauspieldirektor Horst Ruprecht dann nicht länger; Ruprecht hatte dem Sprechtheater an der mittleren Elbe mit Stücken von Turrini und O'Casey, der Reinshagen oder der Fleißer erstaunliche Innovationen beschert und manches Glanzlicht aufgesetzt. Wolf Bunge aber erreichte in der Zeit des Interregniums, daß sich das seit 1988 gegen den Theaterfürsten Schneider auflehnende Theater für junge Zuschauer als Freie Kammerspiele selbständig machen konnte — als siebzehntes Theater des sich konstituierenden Landes Sachsen-Anhalt. Dieser Abnabelungsprozeß von einem Betrieb der sozialistischen Ordnung, Disziplin und Sauberkeit, dieser Emanzipationsakt gegen einen der Gralshüter des kulturellen Biedersinns war beispielhaft in der Gegend zwischen Ostsee und Thüringer Wald: DDR-Identität in die Waagschale geworfen gegen DDR-Identität.

Persönliche Motive, wie es heißt

Die Täter der alltäglichen Verleumdung fühlen sich seit der Jahreswende 89/90 besonders als Opfer. In Magdeburg schritten sie augenscheinlich zur Selbsthilfe. Und setzten flammende Zeichen. Zur Erinnerung: Im März 1990 wurden die ersten freien Kommunalwahlen auf den 6.Mai festgesetzt; die Niederlage der bis dahin regierenden Staatspartei auch auf örtlicher Ebene zeichnete sich ab; es mußte einkalkuliert werden, daß bei veränderter politischer Konstellation auch eine so wichtige Position wie die des Generalintendanten ausgeschrieben würde. Sie wurde zur Disposition gestellt.

Der langjährige Amtsinhaber Schneider sprach gelassen von einer „gewissen Übergangszeit“ — wohl in der Annahme, wie auch immer die Fäden in der Hand zu behalten. Rasch besetzte er noch einige Stellen auf der mittleren Führungsebene des Theaters neu; gründete auch einen Theater-Förderverein und ließ sich zu dessen Vorsitzenden küren. Der erstmals nach sechs Jahrzehnten wieder demokratisch gewählte Rat der Stadt entschied sich jedoch nicht für Karl Schneiders (aus dem Westen stammenden und wg. Unerfahrenheit voraussichtlich gut lenkbaren) Wunschkandidaten, sondern für Max K. Hoffmann als Generalintendant. Hoffmann hat das Theaterhandwerk in Magdeburg gelernt. Er arbeitete am Potsdamer Theater, emigrierte von dort 1984 in die Bundesrepublik; war in Krefeld als Spielleiter des Schauspiels recht erfolgreich. Damit erledigte sich die Vorstellung von der „gewissen Übergangszeit“.

Bevor Hoffmann an der neuen Arbeitsstelle antrat, stand die schwarze Rauchsäule über dem Magdeburger Theater. „Es ist zu vermuten“, meinte der neue Intendant, „daß der Brandstifter noch immer in diesem Haus herumläuft. Inzwischen wurde ein weiteres Mal Feuer gelegt — es brannte im Fahrstuhlschacht.“ Dennoch glaubt der neue Prinzipal, „daß Wiederholungsgefahr nicht gegeben ist. Denn wir haben mittlerweile einen neuen Impuls hier im Haus.“ Im vergangenen Jahr wurden zehn bis fünfzehn Prozent der Karten verkauft, inzwischen sollen es rund 70 Prozent sein — im reinen Freiverkauf — das alte Abonnentensystem brach mit dem Niedergang des für die Organisation der kulturellen Breitenarbeit bis dahin hauptsächlich zuständigen FDGB zusammen). „Es entsteht ein neues Klima. Die Leute fangen an, das alte Lebensgefühl abzubauen und sich neu zu orientieren.“ Sein Wort in des Theatergottes Ohr!

Ein Opernkritiker aus dem benachbarten Halle, der mit den Verhältnissen in seiner neuen Landeshauptstadt seit langen Jahren vertraut ist, runzelte die Stirn. „Persönliche Gründe“, ließ er sich schließlich entlocken; aber man kenne den oder die Täter nicht. Das mag suggerieren, daß es „persönliche Gründe“ eines Kollektivs geben könne. Oder aber, daß der Täterkeis im Prinzip bekannt ist, jedoch geschont wird. Beim zweiten Brandanschlag übrigens, als es im Aufzugsschacht qualmte, fuhr der neue Intendant gerade zu seinem Büro im fünften Stock. Er hat es gut überlebt und zieht nun sein populistisches Programm durch.

Liebesge- und -verbote

Gegeben wird in diesen Wochen in Magdeburg: Die West Side Story und die Linie 1, Aladin und die Wunderlampe oder Die verkaufte Braut, Süskinds Kontrabaß beziehungsweise ein Curt-Goetz-Abend, ein Querschnitt durch Loriots Dramatische Werke oder die unsäglicheAnatevka. Mit all dem sollen die Mageburger sich und ihr Theater wieder lieben lernen. „Das zieht Zuschauer an“, meint Max Hoffmann. Ob er sich auch um Kunst bemüht, vermag er nicht zu sagen. „Wir spielen inzwischen sogar Die Zauberflöte wieder vor ausverkauftem Haus. Das hat damit zu tun, daß die Magdeburger und die Theaterleute wieder zusammenrücken und ein gemeinsames Gefühl entwickeln.“

Hoffentlich merkt das auch die örtliche Presse bald, deren Stimmführerin in alter Manier 'Volksstimme‘ genannt wird und sich auf bewährte Weise, allerdings mit neuer Munition, auf den frisch ans Werk gehenden Generalintendanten einschoß: ihm vorhielt, daß er rüde „abwickle“. Nun muß es freilich am Theater Fluktuation geben, damit es lebendig bleibt (oder damit es aus bleiernem Schlaf erwacht); jeder Direktorenwechsel, das ziehen die freieren Verhältnisse nach sich, bedeutet Neuengagements und ergo auch die Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen (beziehungsweise bei verkrusteten Verhältnissen: Kündigungen). Hoffmann hat acht von mehr als 450 Mitarbeitern entlassen (1,8 Prozent).

Allerdings verpaßte der Intendant den Verbliebenen einen Maulkorb, so etwas wie ein Liebesgebot: Sie sollen gegenüber allen theaterfremden Personen (und wohl insbesondere gegenüber der Presse) verschwiegen sein (und zumindest ihr Unbehagen an den Veränderungen nicht öffentlich artikulieren). Doch wie alle Erlasse solcher Art, so wird auch dieser wenig effektiv sein. Klatsch und Tratsch, Gerücht und Übertreibung sind nun einmal „Mittel der Demokratie“. Und erst recht gehören sie zum Kanon der Auseinandersetzungsformen in einem mühselig sich demokratisierenden Theater. Damit müssen die Begünstigten leben.

Das Jammern über die Zugigkeit der neuen Verhältnisse wird auf dem Territorium hinter dem gefallenen „antifaschistischen Schutzwall“ noch lange anhalten. Zumal, wenn der ungemütliche Wind durch ein Unternehmen bläst; veranlaßt zum Beispiel durch einen neuen Direktor, den die (von den nun Klagenden mitverpesteten) Verhältnisse zum entschiedenen Antikommunisten machten. Wenn der frische Wind eines Theaterangebots aufkommt, das sich an einigen Prinzipien der freien Marktwirtschaft orientiert. Wenn der Scirocco weht, der so manchen der keineswegs sonderlich intellektuellen Wasserköpfe des vormaligen DDR-Kulturbetriebs austrocknen und schrumpfen lassen soll.

Als erstes Zeichen, daß nicht nur in den Kammerspielen, sondern auch im hauptsächlichen Theater der Landeshauptstadt von Sachsen-Anhalt jetzt bessere Zeiten beginnen sollen, wurde ein Frühwerk Richard Wagners auf den Spielplan gesetzt: Das Liebesverbot. Im März 1836 dirigierte der zweiundzwanzigjährige Kapellmeister der freien Theatertruppe von Heinrich Bethmann, die in Magdeburg ihre letzten Gastspiele (vor dem Bankrott) gab, seine zweite abgeschlossene Opernkomposition. Es muß ein Desaster gewesen sein. Weder an der Elbe noch an anderem Ort wurde zu Wagners Lebzeiten eine weitere Aufführung gewagt.

Die gab es 1923 in München, der Hauptstadt der dem Geiste Wagners so verpflichteten „braunen Bewegung“. Es folgten in den sich einbräunenden dreißiger Jahren Versuche mit dem Liebesverbot in Stuttgart, Berlin, Leipzig und — zum 100.Geburtstag der Uraufführung — in Magdeburg einer Reaktivierung des unreifen Machwerks. Der 'Völkische Beobachter‘ fand damals durch die Jubiläumsproduktion „das Genie des jungen Wagner bewiesen“.

Von solcher Genialität zeugte das von dem aus Cottbus nach Magdeburg gekommenen Opernspielleiter Dieter Reuscher in Szene gesetzte Liebesverbot im Kuppelzelt auf dem Universitätsplatz keineswegs. Stark gekürzt erschien die Musik — etwa 60 Prozent des von Wagner Komponierten wurden der Aufführung für würdig befunden (und ich zweifle nicht, daß die Einschnitte dem Unternehmen eher förderlich waren). Präsentiert wurde eine inhomogene Melange aus musikalischen Versatzstücken, „Kapellmeistermusik“ mit einer Portion Undine und einem hörbaren Anteil der Stimmen von Portici, mit Anleihen bei Bellini und vor allem bei Meyerbeers Robert le diable, der Opernsensation des Jahres 1831.

Im Zirkuszelt wirkte ein derartiges Potpourri, appetitlich serviert vom routinierten Roland Wambeck, durchaus apart. Das Genialische des jungen Wagner offenbarte sich ungeschminkt; jene Künstlerattitüde, die in der deutschen (Un-)Geistesgeschichte so giftig nachwirkte: Man hörte (und sah durch das Orchestertreiben in der Manege), wie sich da einer alles Erdenkliche zusammengeholt hat; wie er dies „mit Bombentalent und schäbigem Charakter“ (Thomas Mann) zu etwas Eigenem, auch zu einer speziellen Ideologie fügte. Richard Wagner darf gerade an diesem Punkt als unmittelbares Vorbild von Adolf Hitler gelten: Auch der schickte sich an, weil er anders nicht zum Zuge hätte kommen können, die ganzen ihn betreffenden Verhältnisse umzupflügen. Nur, daß dies eben auf dem Gebiet der Kunst weniger Flurschaden anrichtet als auf dem der Politik.

Ein dramatisches Motiv, welches das gesamte Werk Wagners durchzieht, findet sich bereits im Liebesverbot: die Behandlung der zentralen Frauenfigur, die sich ganz und gar aufopfern muß. Beim Liebesverbot noch zu ihrem (und ihres Bruders) Glück, später nurmehr mit der Perspektive des Untergangs: Senta, Elisabeth, Elsa, Brünnhilde, Isolde und Kundry werden allesamt nur durch Vernichtung „erlöst“. Der junge Wagner hatte, wie er gegen Ende seines Lebens einräumte, Shakespeares Maß für Maß, das er zum Liebesverbot veroperte, höchst einseitig nur begriffen: hatte, beeinflußt von den Schriften des „Jungen Deutschland“ und unter dem Eindruck der frischen Liebe zur lebenserfahrenen Minna Planer, ganz auf ein Loblied der „freien Sinnlichkeit“ abgehoben und auf eine Karikatur der „puritanischen Heuchelei“. Theaterinstinkt hatte er damit durchaus bewiesen.

Theaterinstinkt bewiesen in Magdeburg auch die Sängerinnen und Sänger des Ensembles, die die schweren Koloraturen akzeptabel bewältigten und die schönen Melodien ebenso kräftig ausstellten wie die Dramatik, die mit dem Wüten des Statthalters Friedrich in Sizilien hereinbricht, der bereits den Erzeuger eines unehelichen Kindes mit der Todesstrafe bedrohte.

Es wurde — umständehalber — in einfachster Dekoration gespielt: ein musikhistorisch interessantes Stück, das einst verquer geriet und sich wohl auf vernünftige Weise nicht wird zurechtrücken lassen. Im zirzensischen Ambiente aber war die Produktion bestens am Platz. Und man hörte mit Erstaunen, wie nah der junge Wagner dem Komödianten der Musik des 19.Jahrhunderts, Jacques Offenbach, war. An Wagner ist ein genialer Karnevalskomponist verlorengegangen. Und etwas karnevalistische Heiterkeit mag den Magdeburgern derzeit gut bekommen.