Wie Ossis Demokratie überstehen

■ Lebensläufe von Widerständigen, Mitläufern und Gewendeten seit der Vereinigung

Wie Ossis Demokratie überstehen Lebensläufe von Widerständigen, Mitläufern und Gewendeten seit der Vereinigung

Rolf Bachmann leidet an seiner Vergangenheit. 29 Jahre lang hat er als Redakteur und Korrespondent für das staatliche Pressebüro der DDR, 'adn‘, gearbeitet, 29 Jahre hat er die Unfreiheit, die Mauer, „die ganze Sauerei in diesem Land“ gutgeheißen, ja verteidigt. „Bis zu meinem Tode werde ich meine Versäumnisse bedauern, trauern über all das, was ich nicht geschrieben habe, aber hätte schreiben müssen. Aus diesem Grund schreibe ich heute, schreibe täglich allein eine halbe Zeitung voll.“

Seit einigen Monaten ist der 62jährige Chefredakteur von 'Grimma‘, einer Tageszeitung mit einer Auflage von 3.000 Stück. In der 20.000-Einwohner-Stadt Grimma, unweit von Leipzig, hatte Bachmann unmittelbar nach dem Krieg als Volontär angefangen in der Zeitung selben Namens, deren Erscheinen schon nach einigen Monaten von den Russen verboten worden war. Seine freiwillige Verbannung in die Provinz empfindet er als gerecht. Zwar war er nach dem Fall der Mauer noch stellvertretender Pressesprecher des letzten kommunistischen Ministerpräsidenten der DDR, Hans Modrow, gewesen, und danach, bis zur Vereinigung, auch Mediendirektor beim CDU-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière. Er hätte auch durchaus wieder einen guten Job bekommen bei einer großen Zeitung. Aber, so meint Bachmann, Leute wie er müßten noch mal von vorne anfangen. Er hat inzwischen seine „nicht unerheblichen“ monatlichen Bezüge, die ihm als pensionierten Beamten zustehen, stornieren lassen.

Bachmann ärgert sich, daß im selben Haus an der Langestraße, wo seine Zeitung produziert wird, auch die Regionalredaktion der 'Leipziger Zeitung‘ ihre Niederlassung hat, „ausgerechnet das Parteiorgan des Kreises. Da arbeiten die Redakteure des alten Regimes einfach weiter“.

Es habe immer wieder Momente gegeben, so sagt er, wo klar war, daß die ganze Sache auf purer Illusion beruhte. Wenn beispielweise die 'adn‘- Redaktion die Auflage bekam, nichts mehr über Möhren zu schreiben. „Die Ernte war dann gerade wieder mißlungen und damit die Erwähnung des Wortes ,Möhre‘ strengstens untersagt.“ Oder wenn Altenheime oder die Renovierung von Denkmälern von der Mattscheibe verbannt wurden. „Ich selbst war einfach zu bequem, hatte Angst, meine Privilegien zu verlieren. Ich hatte einfach nicht den Mut, nein zu sagen.“

Auch wenn Rolf Bachmann mit seiner eigenen Situation ganz zufrieden scheint, so ist er das sicher nicht mit bestimmten Aspekten der „neuen Verhältnisse“. Die Gewinnerpose der Westdeutschen ist es, die ihn fuchst. Der Trieb, mit allem aufzuräumen, was an die DDR erinnert: mit den Polikliniken, Gruppenpraxen, Produktionsgenossenschaften, die Porzellanfabrik ganz in der Nähe. Sogar die Brötchen werden plötzlich aus dem Westen geliefert, die Bockwurst aus Westfalen ist offenbar besser als die des örtlichen Schlachtermeisters. „Sie wissen so genau, was gut für uns ist, dort im Westen“, sagt er kleinlaut. Auf der anderen Seite verurteilt er die in seinen Augen überbetonte DDR-Nostalgie vieler Ostbürger. Auch beobachtet er den schwierigen Anpassungsprozeß seiner Landsleute an die neuen demokratischen Strukturen. „Erst ganz wenige trauen sich zu sagen, was sie denken. Die meisten sind ängstlich geblieben, eben vorsichtig.“ Und schließlich: „Es gibt hier in Ostdeutschland keine Toleranz. Menschen mit einer anderen Auffassung, mit abweichendem Verhalten, wird das Leben schwergemacht. Es wird eine ganze Zeit dauern, bis sich daran was geändert haben wird.“

Seilschaften

Als ich ihn das erste Mal traf, im September 1984, war er Bürgermeister von Meißen: Klaus Däumer — ein selbstbewußter Parteimann mit einer interessanten Karriere in Aussicht. Wenige Monate nach dem Fall der Mauer mußte er seinen Stuhl räumen. Aber an den nagelneuen westlichen Möbeln in seiner Wohnung, an seinem modischen Hemd mit seidener Krawatte ist ersichtlich, daß es ihm auch nachher nicht gerade schlecht ergangen ist. „Heute bin ich Direktor der hiesigen Filiale eines westdeutschen Pharma-Großhandels. Da arbeiten 130 Leute. Eine interessante Arbeit, befriedigend, und ich verdiene ganz gut.“ Aber was war mit der Partei, mit Honecker, der Mauer und der Unfreiheit? „Ja, all das gab es. Es ist aber irrig, zu glauben, daß man als Bürgermeister bei Partei-Entscheidungen groß gefragt wurde.“ Nur wenn eine ausländische Delegation die Porzellanfabrik besuchte, hatte Däumler nach eigenen Aussagen seinen Auftritt. „Ich wollte was für die Stadt erreichen, schließlich war ich der erste Bürgermeister, der in Meißen auch zu Hause war. Geblieben bin ich, weil sonst jemand gekommen wäre, der ohne große Freude sein Amt in Meißen angetreten hätte.“

Däumers Flexibilität hat ihm bisher nicht im Wege gestanden. Als die Mauer fiel, rief er als erster einen „runden Tisch“ zusammen, wie das damals überall üblich war. Ohne zu murren, ist er abgetreten. Allerdings hatte er damals das Angebot seines neuen Arbeitgebers schon in der Tasche. Heute favorisiert er die größte Partei in Sachsen, die CDU. Die Art, wie Kanzler Kohl das Zusammenwachsen vorantreibt, findet er „genial“. Inzwischen ist Däumer schon wieder Mitglied des Meißener Gemeinderats. Er ist sich der Tatsache bewußt, daß viele Leute sagen werden: Seht, der Däumer hat seine Schäflein schön ins Trockene gebracht, die alten Seilschaften schieben sich auch heute wieder gegenseitig die Bälle zu. „Aber, verdammt noch mal, dafür hab' ich schließlich jahrelang geschuftet.“

Laus im Pelz

„Alle reden immer nur von der Stasi, aber die Bezirksparteisekretäre waren in vielerlei Hinsicht weitaus schlimmer“, sagt Jürgen Hübinger, „die blockierten alles, entschieden alles.“ Stasi-Männer kamen regelmäßig in seinen Laden, wenn er mal wieder ein Kabarett organisiert hatte, dessen Inhalt sie nicht trauten. Aber die seien von der Parteileitung vorgeschickt worden. „Und wenn ich dann am nächsten Morgen im Rathaus vorsprach, waren es die Parteihengste, die mir in arrogantem Ton Weisung erteilten.“ Jahrelang war Hübinger eine Laus im Pelz des Systems. Im Ostberliner Bezirk Friedrichshagen, weit weg vom Alexanderplatz und den westlichen Touristen, betrieb er — wie auch heute noch — in privater Bewirtschaftschaftung ein Café-Restaurant. Er verstieß gegen alles, was das Honecker-Regime verordnet hatte, ob es die maximale Angestelltenanzahl oder die Polizeistunde betraf. Jeden Abend hatte Hübinger volles Haus, die Mehrzahl seiner Gäste waren westliche Diplomaten und Journalisten aus West-Berlin, die ausnahmsweise mal nicht am Ku'damm dinieren wollten. Jedes mal, wenn er in Schwierigkeiten zu geraten drohte, kam „rein zufällig“ ein Filmteam vom ZDF, und Hübinger kam mit einer Verwarnung glimpflich davon. Der „Friedrichshof“ war eine Brutstätte gesellschaftlicher Unzufriedenheit, in Hübingers Café traf die örtliche Bevölkerung mit Ausländern zusammen.

Als wir an diesem Nachmittag zum ersten Mal seit Jahren wieder bei Hübinger zu Gast sind, ist der Laden nahezu leer. Lediglich auf der Terrasse trinken ein paar Touristen Kaffee. „Für mich hatte die Wende katastrophale Folgen, wie Sie sehen. Die Diplomaten kommen nicht mehr, die Korrespondenten sind in Bonn, und die Bürger unserer ehemaligen DDR geben ihr Geld lieber für Autos, CD- Plattenspieler und Auslandsreisen aus.“ Und die Westberliner? „Ach, wissen Sie, mein Laden hat heute viel von seiner Spannung, von der Exotik des Verbotenen eingebüßt. Und außerdem können sie jetzt nicht mehr mit schwarz getauschter DDR-Mark bezahlen.“

„Der Kern war gut“

Als einer der Leiter des Internationalen Presse-Zentrums war Heinrich Roth zuständig für alle westlichen Journalisten, die einen Besuch in der DDR angemeldet hatten. Für uns ausländische Journalisten war er der nie zweifelnde Apparatschik, der nicht müde wurde, die Kollegen mit seinen Ansichten über die „Verdrehungen und Lügen“ in der westlichen Presse über die DDR zu unterhalten. An Roth führte kein Weg vorbei. Wenn er es nötig hielt, bekam man außerhalb Ost-Berlins keine oder nur uninteressante Termine. Er saß hoch zu Roß, der Heinrich Roth, war arrogant und nachtragend, bis er — es war im Juli 1989 — auf einmal unglaublich zuvorkommend wurde. Vier Monate vor dem Fall der Mauer muß er die Wende vorausgesehen haben.

Heinrich Roth war zu Zeiten seiner DDR-Herrlichkeit mächtiger gewesen, als er es während unseres Gesprächs in einem Biergarten an der Spree zugeben mag. Wenn man an der Grenze mal nicht die richtigen Genehmigungen dabei hatte, genügte meist ein kurzes Telefonat mit Roth, um den zaudernden Grenzpolizisten von den lauteren Absichten zu überzeugen. Heute gibt er sich jovial, wenn auch zurückhaltend. „Ich habe einen kleinen Betrieb und möchte mir selbst nicht schaden“, sagt er wie zur Entschuldigung. Trotz aller verkrampft anmutenden Differenzierungen in seiner Sprache immer noch die alte Leier: Die Bundesrepublik habe die DDR vierzig Jahre lang nur ausgepowert. Die DDR sei ein Produkt des Kalten Krieges gewesen. Und wenn man die bei späteren Entwicklungen diesen Aspekt unberücksicht lasse, so Roth, tue man der DDR unrecht. „Der Ausgangspunkt war nicht bösartig oder verbissen. Wir wollten einen Staat, in dem jeder wirklich gleiche Chancen haben sollte.“

Einiges sei nicht in Ordnung gewesen, aber das war vor allem der Staatsführung zuzuschreiben gewesen. Auf dem vorletzten Parteitag der SED habe er verstanden, daß mit diesem Politbüro etwas Grundsätzliches nicht stimmte. Ein Tag vor Beginn wurde im großen Saal des Palastes der Republik geprobt, wie die Fotografen während der Rede des Generalsekretärs nach vorne stürmen, ihre Schnapschüsse machen und wieder verschwinden sollten: Es sollte der Eindruck eines wirklichen Staatsmannes geweckt werden, umgeben von einer aufdringlichen Presse. Plötzlich unterbrach ein Mitarbeiter Honeckers die Probe. Er rief die Fotografen zu sich; sie sollten sich, nachdem sie ihre Arbeit erledigt hätten, Honecker auf keinen Fall den Rücken zuwenden. Sie sollten rückwärts gehen, das Gesicht dem bedeutenden Staatslenker zugewandt.

War denn die Vereinigung der beiden Deutschlands zu vermeiden gewesen? Heinrich Roth glaubt es nicht. „Unsere Wirtschaft hatte nicht die Spur einer Chance gegenüber der westdeutschen. Das heißt aber nicht, daß man auf einmal alles, was aus der DDR kam, niedermachen muß.“ Rob Meines

Der Autor ist Redakteur der Rotterdamer Tageszeitung 'NRC-Handelsblad‘.