Wie Jürgen Trittin zurück an die Macht will: Der Retro-Star
Offiziell sitzt Jürgen Trittin seit seinem Abschied als Minister bei den Grünen in der zweiten Reihe. Doch längst ist er zentrale Figur für die Wahl 2009 geworden.
Die Lichter im Abgeordnetenrestaurant sind ausgeknipst. Die Saaldiener haben den Monitor vom Parlamentskanal auf Fußball umgeschaltet. Gerade durfte eine Dame von der Linkspartei ihre Ideen zur Strafrechtsreform präsentieren, aus denen nie etwas werden wird. Es ist kurz nach 21 Uhr im Bundestag. Zeit für Jürgen Trittin. Eigentlich soll er den Antrag "Für eine umfassende Strategie zur demokratieverträglichen und zivilgesellschaftlichen Stabilisierung Pakistans" im Plenum vorstellen. Bloß wo steckt er? Trittin, verkündet der Parlamentspräsident, wolle seine geplante Rede nur schriftlich zu Protokoll geben.
Am Tag danach sitzt Jürgen Trittin im ICE und ringt um eine Erklärung. Sein Fehlen, murmelt er, habe "persönliche Gründe" gehabt. Das kann viel heißen. Zum Beispiel, dass er als Spitzenmann der Grünen für den anstehenden Bundestagswahlkampf nicht vor einem Geisterparlament über ein Schubladenpapier reden wollte. Trittin sagt leise, so als sollten die Sitznachbarn auf keinen Fall mithören: Seine Frau liege krank im Bett. Da habe er ihr lieber etwas gekocht.
Gemessen an den Schlagzeilen, für die Trittin mal gut war, ist es still um ihn geworden. Es sah sogar aus, als sei er nach dem Abschied aus der rot-grünen Regierung in die zweite Reihe zurückgefallen - abgespeist mit den Posten als Fraktionsvize und Leiter des Arbeitskreises IV der Grünen im Bundestag: Internationales und Menschenrechte. Jürgen Trittin konnte das nur Recht sein. Während die Medien sich eifrig mit den Kandidaten für Parteichef Reinhard Bütikofers Nachfolge befassen, hat er sich geräuschlos in die optimale Startposition für das Superwahljahr 2009 gebracht. Zusammen mit der Reala Renate Künast will er als Vertreter der Parteilinken den Bundestagswahlkampf anführen. Aber nicht nur.
Parteizoologen zählen "den Jürgen" zu den grünen "Alphatieren", zur Zeit zwar ohne Spitzenamt, aber mit Einfluss und Ambitionen. Über seinen Traumjob ist man sich ziemlich einig: Er will Außenminister werden, am besten gleich auch Vizekanzler - so wie einst Joschka Fischer. Seine Zuständigkeit für Weltpolitik ist kein Zufall.
Trittin als Außenminister? Vizekanzler? Pflichtschuldig bestreitet er solche Gelüste. "Erst müssen wir ein bestimmtes Wahlergebnis erreichen", sagt Trittin nüchtern, "dann überlegen wir uns, was wir damit machen." Aber klar doch.
Auffällig ist allerdings, wie bereitwillig die Grünen ihre Hoffnung für die Bundestagswahl ausgerechnet in den Ex-Minister setzen. Denn vor nicht allzu langer Zeit sahen ihn die Demoskopen auf der Beliebtheitsskala deutscher Politiker am unteren Ende. Es gab Phasen, da schafften es noch die irrsten Trittin-Stories in die Presse - weil sie zum Bild passten, dass sich das Land von ihm gemacht hatte. Geschichten wie jene, wonach ihn die Berliner Taxifahrer aus Wut über steigende Benzinpreise nicht mehr mitnähmen. Dass Trittin einen Dienstwagen samt Chauffeur hatte und gar kein Taxi brauchte? Egal.
Jürgen Trittin, Kaufmannssohn aus Bremen, Diplom-Sozialwirt, Berufspolitiker, war gebucht für die bösen Rollen: Arrogant, stoffelig, verbohrt - einsetzbar als Rüpel, Autist, Öko-Neurotiker. Vielen Konservativen galt er schlicht als Gottseibeiuns. Der Designer Wolfgang Joop stand ziemlich alleine da mit seinem Lob auf den lässigen "Clint-Eastwood-Charme" des Grünen, der so "etwas Verwildertes und dennoch etwas Elegantes" habe. Selbst treue Gefährten erinnern sich mit Grausen an Trittins Körpersprache: Wie sollte das Land diesen Mann für einen prima Kerl halten, wenn der sich ständig hinter überkreuzten Armen verschanzte und scheinbar genervt zur Decke starrte?
Doch was damals als Trittins Handicap galt, sehen einige heute als Trumpf. Selbst das Nein der Parteispitze zu Schwarz-Grün im Bund wirkt inzwischen wächsern. Die Partei bangt um ihre Glaubwürdigkeit - und blickt erwartungsvoll auf Trittin. Er gilt als angriffsstark und authentisch. Verglichen mit Künast sei er der kühlere Stratege, könnein die Kollegin notfalls "Huckepack" nehmen, hofft mancher in der Fraktion. Selbst jene, die leidenschaftlich die "Selbstinthronisierung" des "Spitzentandems" anprangern und über Trittins unverarbeiteten Joschka-Komplex lästern, loben dessen Rückkehr nach ganz vorn. Schließlich, sagt eine Kollegin aus der Parteispitze, hätten sich die Ansprüche der Wähler an die Grünen geändert: "Rüpelhafte Auftritte sind plötzlich wieder gefragt."
Wirklich? Zumindest hört man derlei auch an der Basis. Das Image der Grünen sei viel zu weichgespült, klagt ein Weggefährte aus Göttingen. Gerade weil Trittin sich das Image des "Rotzbengels" bewahrt habe, diesen "Charme des Unorthodoxen", sei er die richtige Werbefigur für die Bundestagswahl. Trittin gehe noch als "klassischer Grüner" durch. Einer, der polarisiert. Der den Atomkonsens durchboxte. Der sich für das Dosenpfand prügeln ließ. Der bis heute keinen Führerschein hat. Der auch deshalb sperrig scheint, weil er alles Private für sich behält, wenn es irgendwie geht.
Und vielleicht würde Trittin dank dieses Rufes sogar das schaffen, worüber bislang kaum jemand in der Partei laut reden will: Die jaulende Basis nach der Bundestagswahl für eine Koalition mit der Union und womöglich auch noch mit der FDP zu gewinnen.
Jürgen Trittin, ein Retro-Kandidat, der die Sehnsüchte des Wählers nach der guten, alten Öko-Zeit bedient und dennoch undogmatisch taktiert wie grüne Nachwuchskarrieristen? Der mit dem Fahrrad gen Schwarz-Grün aufbricht statt in der Dienstkarosse - und so auch die linke Hälfte der Partei für die Kurswende gewinnt?
Da lacht er. Es ist Freitagmittag, die Sonne knallt in sein Bundestagsbüro, Jürgen Trittin hängt tief im Sessel, die Beine lang vor sich ausgestreckt. "Ich empfinde mich weder als retro noch als sonst was!" Wer ihn so tituliere, kantet Trittin, der wünsche sich wohl "eine wirtschaftsliberale grüne Partei mit Öko-Mäntelchen - aber das werden die Grünen nicht werden". Und das Gerede über sein ungehobeltes Auftreten! "Es wird sich eins nicht ändern: Ich bin halt 1,96 Meter groß und die meisten Stühle sind für mich zu klein."
Das mag stimmen. Allerdings hat sich dennoch einiges gewandelt an Trittin. Man muss ihn nur vor Publikum erleben - bei Diskussionsrunden, in Talkshows oder daheim im niedersächsischen Wahlkreis. Da sitzt ein Herr von 53 Jahren mit ergrauten Schläfen und gibt den gereiften Staatsmann. Schlagfertig, aber kontrolliert. Etwa bei einer Podiumsdiskussion über die 68er in Göttingens Altem Rathaus. Der Gast aus Berlin amüsiert die Herrschaften mit Anekdoten über Klein-Jürgen beim Schülerstreik, gibt der Lokalgröße von der CDU lustvoll ein paar mit und erläutert dem Saal schließlich mit versöhnlichem Lächeln, warum die Hausbesetzer rückblickend durchaus konservativ gewesen seien. Auf dem Weg nach draußen flüstern sich ältere Damen begeistert zu: "Toll dieser Trittin, was?" "Ja, wie der redet, jeder Satz druckreif!" Jürgen Trittin als Golden-Ager-Schwarm - wer hätte das gedacht vor ein paar Jahren?
Ilse Stein, Chefredakteurin des Göttinger Tageblatts und Moderatorin des Abends, lief Jürgen Trittin schon im Studium über den Weg. Anfang der 80er absolvierten beide gemeinsam die mündliche Prüfung in Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Groß verändert habe sich "der Jürgen" nicht seit dieser Zeit, versichert sie. Strategisch klug sei der schon damals gewesen. Ein "brillanter Rhetoriker", ein "Vordenker".
Wie es aussieht, ist Jürgen Trittin mal wieder vorgeprescht. Er empfiehlt sich als Chefdiplomat der Republik. Fachsimpelt über den Staatsaufbau in Afghanistan, debattiert über den Lissabon-Vertrag, reist zu politischen Gesprächen ins vorolympische China. Und wenn er nach seiner Rückkehr bei Kaffee und Kuchen vor der Basis in Northeim für einen "fairen Umgang" mit den Chinesen wirbt, verschluckt sich mancher Dalai-Lama-Verehrer im Saal fast am Apfelstreusel. "Jürgen, warum nehmen wir nicht klar Stellung zu China? Warum brechen wir uns da so einen ab?", empört sich ein Grüner. Er wisse, wovon er rede, schließlich sei er regelmäßig in China, "und ich lebe da nicht nur in feinen Hotels!" Doch als außenpolitischer Azubi lässt sich der Gast aus Berlin nicht hinstellen. Fünf mal sei er in den letzten acht Jahren in China gewesen, keult Trittin zurück, im Außenministerium habe er "lautstark" mit den Chinesen gestritten. Aber es sei nun mal auch "unheimlich viel passiert" in diesem Land.
Jürgen Trittin klingt jetzt oft so, als wolle er sich dringend einen neuen Ruf zulegen und jenen des Politrowdys vergessen machen. Erkundigt man sich nach Unterschieden zwischen den Weltpolitikern Trittin und Fischer, spricht er respektvoll über die "von Joschka formulierte, aber von mir mitgetragene Außenpolitik". Konfrontiert man ihn mit den Forderungen grüner Afghanistan-Rebellen, sagt er: "Robert Zion hat einen wichtigen Ansatz, den ich völlig teile: Es bedarf in Afghanistan eines Strategiewechsels. Da gibt es keinen Dissenz." Fragt man ihn nach seinen Visionen für die Partei, referiert er brav jenen Leitantrag, den der grüne Länderrat beschlossen hat. Inhaltliche Differenzen zwischen ihm und Realo-Kollegin Künast fallen ihm zur Zeit überhaupt keine ein. Und das Gezeter einiger Nachwuchs-Grüner über die "basisdemokratisch nicht legitimierte" Kür des Spitzenduos lockt Trittin gleich gar nicht mehr aus der Reserve.
"Wenn ich uns mit einer anderen großen Partei vergleiche", sagt er trocken, "dann haben wir das doch relativ vernünftig gemacht." Ein breites Grinsen liegt auf seinem Gesicht. In Momenten wie diesem sieht Jürgen Trittin aus, als sei er zufrieden mit seinem Weg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Nordkoreas Soldaten in Russland
Kim Jong Un liefert Kanonenfutter
Bankkarten für Geflüchtete
Bezahlkarte – rassistisch oder smart?
Anschlag in Magdeburg
Der Täter hat sein Ziel erreicht: Angst verbreiten