Wider den Sprungfetischismus!

Trotz formaler Aufwertung der Note für künstlerischen Wert entscheidet beim Eiskunstlauf der Herren die Sprungleistung/ Kurt Browning kreiselte am heftigsten und wurde zum dritten Mal Weltmeister  ■ Aus München Michaela Schießl

Daniel Weiss, der fünffache Deutsche Meister, betrat zögerlich, geradezu widerwillig das Eis zur Kür. Der Meister des Ausdrucks hatte Angst. Angst vorm Springen. „Wir werden einen Psychologen hinzuziehen, ich kann da nicht mehr helfen“, kapitulierte Trainer Fejfr vor der mentalen Sperre seines Schülers. „Der hat ja nicht einmal versucht, den Dreifachen zu springen.“ Und der völlig verunsicherte Weiss, der schließlich 18. wurde, zweifelt, „ob das alles noch Sinn hat“.

Zu Recht, denn auf seine außergewöhnlichen künstlerischen Fähigkeiten kann Weiss pfeifen. Die Weltmeisterschaft in München bewies: Der Sprungfetischismus steht in höchster Blüte. Selten kreiselte eine Herrenkonkurrenz so viel in der Luft wie bei diesen Titelkämpfen. Und selten war es so langweilig. Keiner, der sich etwas besonderes traute. Keiner, der aus der Reihe fiel. Keiner, der den Blutdruck steigen ließ. Der Preis für die Sprungsucht: choreographische Phantasielosigkeit.

Eiskunstlauf? Der künstlerische Wert der meisten Vorstellungen reduzierte sich auf Armschnörkel, pathetische Gesten und altbekannte Schrittfolgen. Und als Zugabe ein charmantes Schmachten für die Jury. Eissprunglauf! Wer springt, gewinnt. Weltmeister Kurt Browning aus Kanada hüpfte wie wild und mit Vorliebe kombiniert. Bis auf den Lutz zeigte er alle Dreifachsprünge, die meisten mehrfach. Und eben diese Kombinationen brachten ihm zum dritten Mal den Titel. Vizeweltmeister Viktor Petrenko (UdSSR) hatte als einer der ganz wenigen Trainingszeit geopfert, am künstlerischen Ausdruck gefeilt, seine Musik meisterhaft interpretiert. Auch er zeigte alle Dreifachsprünge, aber wenige in Kombination. Das Publikum dankte Petrenko mit Standing ovations, allein die Richter hatten kein Einsehen. Schade, Viktor, wieder nur zweiter Sieger. Trotz der besseren B-Note für die künstlerische Darstellung.

Eine skandalöse Entscheidung, angesichts des Beschlusses der Internationale Skating-Union, die B-Note ernster zu nehmen. Im Zweifel sollte sie entscheiden. Doch in der Realität klammern sich die Wertungsrichter wie eh und je an die Sprünge, weil sie als einziges meßbar und klar zu bewerten sind. Doch geht es um Choreographie, Kunst und Ausdruck, kommen die Richter ins Grübeln. Resultat dieser Orientierungslosigkeit: Die B-Noten hängen nach wie vor eng mit den A-Noten zusammen. Auch in München traute sich kein Jury-Mitglied, die Trennung zwischen Technik- und künstlerischer Note konsequent durchzuziehen.

Dabei wurde auch die Grenze der Sprungsucht deutlich. Nicht einmal Kenner der Szene können Dreifachsprünge von Vierfachen unterscheiden. Auf jede Landung folgt ein Halsrecken zum Fernsehschirm, um in Zeitlupe Umdrehungen zu zählen. Der Sprung an sich ist ungenießbar und bezieht seine Faszination einzig aus der abstrakten Zahl: Zweifach, dreifach, vierfach. Altmeister Norbert Schramm, selbst Performance- Künstler, hält diese Entwicklung für problematisch. „Der Sport wird erst wieder einfallsreicher und fröhlicher, wenn ein mißlungener Sprung nicht zu hoch ins Gewicht fällt“, sagt er und schlägt vor: „Drei Zehntel Abzug statt sechs.“ Denkbar wäre auch eine weitere Aufwertung der B-Note.

Doch ob solche Vorschläge bei der ISU Gehör finden, darf bezweifelt werden. Eiskunstlauf soll als Sportart meßbar bleiben, und nicht völlig zur Show abdriften, tönt es bereits drohend vom Internationalen Olympischen Komitee. Und schon regt sich heftiger Widerstand gegen die Entwicklung des Eistanzes hin zum Tanztheater. Das Publikum ist zwar hingerissen, die Wertungsrichter jedoch sind verzweifelt. Und der für Eistanz zuständige ISU-Mann, Hans Kutschera, will zurück zur Polka: „Das kann man bewerten. So wie es war, war es doch schön!“