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Archiv-Artikel

While we were getting high

Sie waren die größte Band der Neunziger: Oasis, working class heroes aus Manchester, die für sich die Weltherrschaft forderten. Sie schenkten uns den Glauben an uns selbst und an ein gutes Leben. Aber jetzt ist Schluss. Ein Fan, sein Idol und ein letztes Konzert

von HENNING KOBER

Der Himmel über Berlin schimmert in buntem Grau. Ein Spätnachmittag im März. Vor der Arena in Treptow schwirren Regentropfen im Wind. Glückskinder fangen sie mit dem Mund. Große Glückskinder ziehen sich eine Englandfahne über den Kopf. An den Füßen Turnschuhe, die Jeans dreckig und mit Löchern, am Oberkörper Adidas-Streifen, die Haare lang, ins Gesicht fallend. Knapp fünfzig Oasis-Fans, Jungen und Mädchen zwischen 15 und 25, warten auf das Konzert ihrer besten Band der Welt in Berlin. Noch vier Stunden.

Zwei Möwen spielen über der Spree mit den Windwellen. Ein Junge drückt seine Freundin fest an sich, küsst sie lang. Dann drückt er einem Freund, über dessen Schulter sein Arm hängt, einen Schmatz auf die Backe. Ich bekomme verdammt gute Laune, muss aber leider weiter. Denn gleich, gleich, bin ich verabredet, mit Noel Gallagher, Chef und Erfinder von Oasis. Er ist der Held meiner Jugend, ohne seine Musik hätte ich nicht überlebt in der Kleinstadt, in der ich aufwuchs. Waren die Menschen kalt und gemein und mein Zimmer eng, gab es Rettung. Eine schiefe Bank vor einer Hütte im Weinberg über Metzingen. Dazu eine Zigarette und im Kopfhörer „Live Forever“: Maybe I just want to fly, I want to live I don’t want to die / Maybe I just want to breath / Maybe I just don’t believe /, Maybe you’re the same as me / We see things they’ll never see / You and I are gonna live forever. Auf einmal war wieder alles klar. Nicht du bist der Dämon. Die Dämonen sitzen da unten in ihren Häusern und sind sorglos böse, ohne es zu bemerken. Aber irgendwo dahinten gibt es Menschen, mit denen man vielleicht besser auskommt. Den Soundtrack zu dieser Hoffnung schenkten mir zwei Brüder aus einem Vorort von Manchester: Noel und Liam Gallagher.

Im Innern der Arena ist es hell und weit, die Decke niedrig. Die Roadies bauen noch an der Szenerie des Abends. Ich gehe durchs Treppenhaus, alles scheint dieses Mal zu klappen. Zweimal hatte mich Mr. Gallagher versetzt. Einmal, ohne einen Grund zu nennen, ein anderes Mal, weil sein Bruder eine Schlägerei hatte und die Band Deutschland umgehend verlassen musste.

Der Ort unseres Zusammentreffens ist ein großer Raum, in dem Fitnessgeräte, ein graues Samtsofa und Stühle platziert sind. Das Licht ist schummrig. Plötzlich geht die Tür auf, und herein kommt Noel Gallagher. 35 Jahre alt. Kleiner, schmaler als erwartet. Jeans und langer, olivgrüner Parka. Überraschenderweise keine Sonnenbrille. Er sagt „Hi“, lässt sich in die Couch fallen und erklärt: „Ich bin bereit, fangen wir an.“ Wir haben zwanzig Minuten. Ich frage: „Mr. Gallagher, wie war es in München?“ „Waren wir da letzte Nacht?“ „Ich denke, ja.“ Ein Telefon klingelt. Noel: „Hello. Hello? Verficktes Telefon! Also, die letzte Nacht, das war wirklich, wirklich, wirklich gut.“ Nervt ihn die Frage? Egal. Nur nicht zu viel Respekt zeigen, weiter. „Waren Sie gespannt auf die Reaktion der Fans, nachdem Ihre Band die Konzerte während der letzten Tour abgesagt hatte?“, frage ich. „Bekanntlich sind all unsere Konzerte fantastisch.“ Ein trotziges Pfeifen jagt durch seine Stimme. Noel Gallagher spricht ein klares Englisch aus dem Norden. Die Coolness, kühl und warm zugleich, weicht nie aus seiner Modulation. „Wir haben eine große Fangemeinde. Niemand kommt mehr zu einem Oasis-Konzert, um herauszufinden, ob unsere Musik seine Musik ist. Wenn du bis jetzt Oasis nicht gesehen hast, fuck off.“ An Noels Hand prangt ein Siegelring mit einem roten Stein. Er drückt ihn an seine Stirn. Fest. Vielleicht seine Methode, aufzuwachen.

„Bedrückt es Sie, wenn Menschen Witze über Ihren jüngeren Bruder Liam und seine neuen Zähne machen?“ – „Ja.“ – „Ja?“ Stille im Raum, 21, 21, 21, zu lang. „Kränkt es Sie, wenn Menschen über ihn Späße machen?“ „Bin ich gekränkt?“ – „Sind Sie es?“ „Nein. Nein, ich bin überhaupt nicht gekränkt. Solange die Leute keine Witze über mich machen, kümmert es mich nicht.“ Wir spielen das Spiel Star gegen Journalist. „Lassen Sie uns ein wenig über Irland, wo ihre Eltern herkommen, reden. Fühlen Sie irische Wurzeln in sich?“ – „Absolut.“ – „Dann sind Sie sicher auch katholisch?“ – „Getauft, natürlich, aber ich praktiziere nicht. Ich glaube nicht mehr an Gott, genauso wenig wie ich an Religion oder Jesus Christus oder irgendwas anderes von diesem Schwachsinn glaube.“ S-C-H-W-A-C-H-S-I-N-N. Hier zertrümmert gerade jemand im Halbschlaf eine über zweitausend Jahre alte Religion. Sehr cool, sehr lässig, sehr Rock ’n’ Roll. „Können Sie sich an Ihre letzte Beichte erinnern?“ – „Das muss sehr, sehr lange zurückliegen.“ – „Jemals die IRA bewundert?“ – „Meiner Meinung nach hat die britische Regierung nicht irgendein Recht, in Irland zu sein. Aber ich befürworte natürlich keinen Terrorismus.“ Die letzte Irlandfrage: „Was ist Ihre Lieblingswhiskeymarke?“ – „Lieblingswhiskey? Keine Ahnung. ‚Glenfiddich‘, wurde mir gesagt. Aber sind die nicht alle gleich?“ – „Ihr Vater war starker Trinker, hatte das Einfluss auf Ihren Umgang mit Alkohol?“ – „Nein. Nein. I like to drink alcohol a lot, but I don’t like to drink a lot of alcohol, wenn Sie verstehen, was ich meine. Seine Stimme schlackert, für einen Moment blitzt hinter all der stilvollen Runtergerocktheit der kleine Junge auf. Enttäuscht von der Trostlosigkeit der Welt, wütend durch Manchester rennend, Klebstoff schnüffelnd, Milchwagen klauend, sich die graue Betonwelt schönkiffend. Ende der Achtzigerjahre verändert Gallaghers Heimatstadt ihr Gesicht, unerwartet und nachhaltig. Ein paar DJs bringen Ibiza nach Hause. Sie mixen ihre House-Platten mit den Gitarren von Rockbands und präsentieren die Musik, die man später Acid House nennen wird. Tempel der neuen Bewegung ist der Club Hacienda in Manchester. Auch Noel Gallagher ist eine Zeit lang strahlend mittendrin. Die Euphorie dieser Nächte wird sich später in der Musik von Oasis wiederfinden. „Mr. Gallagher, haben Sie sich in einem Club jemals wieder so wohl gefühlt?“ – „Nein, und ich empfinde es als großes Glück, dabei gewesen zu sein. Wobei es nicht wirklich an dem Club, sondern an der Mischung von Menschen, Musik und Drogen lag.“

„Können Sie mir den Begriff ‚Popkultur‘ erklären?“ Der Songwriter fährt sich mit der Hand über die müden Augen und richtet sich etwas auf. „Popkultur verändert sich ständig und bedeutet für jedes Jahrzehnt etwas anderes. Die Beatles, Stones, The Who und die Carnaby Street, das waren die Sechziger. T- Rex in den Siebzigern und der großartige David Bowie. Duran Duran, Spandau Ballet und Culture Club in den Achtzigern. Oasis in den Neunzigern.“ Es kommt zu einer Pause. Dramatisch. Dann laut und hoch: „Heute ist es Kylie Minogue. Vielleicht. Das ist sehr traurig. Sie macht Musik ohne Substanz, salty cheesy Popmusik. Alles sehr lala. Ich glaube, dass Popmusik Aussagen, Substanz braucht.“ „Wenn jemand also sagt, Oasis sei Old Skool, dann hat er Recht, oder wie?“, will ich wissen. „Ja, wir sind aus den Neunzigern, nicht?“ Noch vor gar nicht all zu langer Zeit hat Oasis für sich die Weltherrschaft gefordert. Und jetzt? Sitzt hier ein trauriger Star, dem Ruhm und Glory durch die Finger rinnen? „Pop“ bedeutet ja eigentlich nicht mehr als „populär“, und die Zeiten, in denen ein ganzes Land, inklusive des britischen Premierministers, beim Erscheinen eines der Bandmitglieder ausrastete, sind zweifellos Geschichte.

Noel Gallagher drückt sich tief ins Sofa und wirkt dabei eigentlich ganz entspannt. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Die Neunziger sind vorbei. Der Hunger der Jungs aus Manchesters Arbeiterklasse ist gestillt.

„Bleiben Sie dabei, dass Sie sich sofort in den Kopf schießen, falls es ein Oasis-Best-of-Album gibt?“ – „Habe ich das gesagt?“ – „Ja“. Er zögert, überlegt. Überraschend, dass er sich von einem falschen Zitat so leicht irritieren lässt und sogar den Glauben für eine Sekunde wiederfindet. „Oh mein Gott. Dann nein. Ich bin sicher, dass es ein Best-of-Album geben wird.“ Seine Stimme ist wieder schneller, gluckst und lacht. Schön ist das.

Einige Wochen später wird Noel Gallagher ankündigen, dass er und die Band den Rest des Jahres pausieren werden. Erst 2004 oder vielleicht 2005 wollen sie wieder an einem neuen Album arbeiten. „Ich bin fünfzehnmal um die Welt gereist und habe alles gesehen, was es zu sehen gibt. Für mich ist das kein großes Abenteuer mehr, es ist wie ein Job, den man zu erledigen hat. Das ist der Grund, warum es mich so langweilt“, lässt sich Noel Gallagher zitieren. Auch wenn der symbolische Akt der Trennung noch fehlt: Heute, im Sommer 2003, weiß man, dass die Zeit von Oasis definitv vorbei ist.

Mein letztes Oasis-Konzert. Die Halle ist voll, die Schlange zum Bier lang. Vor der Bühne steht das Feld schon dicht zusammen. Das Licht geht aus, die Gitarre los. Liams Stimme singt „Bring it on down“. Eins, zwo, drei, vier, schnell noch ein Bier. „Los“, sagt Julian bei „Supersonic“ und zieht uns nach vorne, ohne nach rechts und links zu schauen. Vor, vor, vor, weiter, dorthin, wo es richtig Spaß macht. Im Publikum auch Schulgesichter. Manche haben vergessen, ihren Eastpack-Rucksack abzugeben, der stört jetzt. Den meisten haben sich die Spuren vergangener Nächte ins Gesicht gegraben, tief oder leicht. Die Stuckrad-Barre-Generation. Das ist okay, besser als Golf. Irgendwann geht es nicht mehr weiter. Wir stecken in der vierten Reihe. Liam und Noel über uns. Helden sind nichts Faschistisches, nichts Feiges, nichts Falsches. Es kommt nur drauf an, zu wem man aufschaut. Die Beine fangen an zu tanzen, die Arme kommen nach. Wir sind dabei. Es wird warm, das T-Shirt klebt, die Hose rutscht. Besser nicht den Schuh verlieren. Kleine Schweißbahnen laufen über Utas gerötete Backen, es sind die Tränen der Euphorie. Alle Menschen sehen sehr schön aus, Glück ziert ihre Gesichter. Es ist, als würde ein Kind gezeugt. „Rave on“ die Mutter, „Rock ’n’ Roll“ der Vater. „Champagne Supernova“ explodiert. How many special people change / How many lives are living strange / Where were you while we were getting high?

Es ist einer der Momente, nach dem alle gieren. Hier haben ihn fünftausend Menschen gefunden. Julian und ich fliegen. Fliegen und schweben über den Köpfen der Menschen, die jetzt unsere Freunde sind und mit ihren Händen unsere Körper stützen, drehen, über der Menge kreisen lassen. Wir sind auf gleicher Höhe wie Liam und Noel. Der Körper kitzelt, Segelfliegen ist nichts dagegen, ein Zustand, auch mit guten Drogen nur schwer zu erreichen.

Irgendwann hören wir trunken „Wonderwall“. Oasis’ größtes Lied. Der Ton kommt vom Band. Die Bühne ist dunkel. Das Konzert ist vorbei. Langsam löst sich die Menge auf. Wir fahren zur After-Show-Party in den Sophienclub und bekommen Ärger, weil wir das Bier nicht bezahlen wollen. Fahren weiter ins Hotel Four Seasons, wo die Band wohnt. Wollen in die Bar, wo die Jungs jetzt sicher feiern. Der Concierge, ein Double von Exbotschafter Thomas Borer, schüttelt den Kopf. „Alle Plätze besetzt, nur für Hausgäste.“ Nichts geht – auch kein Journalistenanruf auf dem Handy des Tourmanagers. Er geht nicht dran. Auch egal, wir ziehen weiter. Fahren sehr schnell mit dem Auto zum Brandenburger Tor und wieder runter über die Linden. Bis uns eine Zivilstreife stoppt. „Haben Sie Alkohol getrunken?“ – „Nein, nein“. Irgendein Gott ist gnädig. Wir fahren weiter, weiter in die Nacht. Später wird in den Zeitungen zu lesen sein, dass die Gallaghers nach dem Konzert schnell zum Schlafen auf ihre Zimmer gegangen sind. Sind wir enttäuscht? Ja. Nein. Nein, sie haben mir und anderen in den letzten Jahren mehr als geholfen. Danke.

HENNING KOBER, 22, lebt als freier Journalist und Autor in Berlin