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Wer ist hier eigentlich desorientiert?

■ betr.: „Formen von Desorientierung und Verfall“, taz vom 11.5.94

Das Interview ist von seiten der Fragerin wie des Befragten eine fortwährende Spekulation und Suggestion, die aber wie eine wissenschaftliche Expertenanalyse daherkommt.

Schiffauer sagt zwar zunächst richtig, es gebe „viele mögliche Szenarien“, um dann aber doch nur eines auszumalen. An mehreren Stellen wird suggeriert, daß Eylem „möglicherweise“ eine Person mit einem „lockeren“ Lebenswandel sei (Antwort Schiffauers auf die Frage, warum E. wohl mit 16 geheiratet habe: „Vielleicht wollten die Eltern das Mädchen unter Kontrolle bringen, weil sie Angst hatten, daß es mit einem Mann durchbrennt“, oder: denkbar sei es, „daß sie ihren Mann in der Hochzeitsnacht mit dem Verlust der Jungfräulichkeit konfrontieren und ihm eine Erklärung dafür geben mußte“, die ja nicht wahr sein müsse). In seiner Darstellung erscheint sie so von vornherein als unglaubwürdig. Schiffauer sagt, „es ist durchaus denkbar, daß die junge Frau ihrem Onkel etwas Falsches unterstellt hat“, ohne die Umstände tatsächlich zu kennen! Wieder mal die verleumderische Vermutung im Vorfeld, das Mädchen täusche sexuellen „Mißbrauch“ vielleicht nur vor.

Eine scheinbar neutrale Spekuliererei, die aber doch nur eines produziert: Klischees, Klischees, Klischees! Kirsten Düsberg, Kathrin Roller

Vielen Dank für das lehrreiche und informative Interview über das Liebesleben des Ostanatolen. Professor Grzimek hätte es nicht besser gekonnt!

Etwas hilfreicher allerdings wäre es gewesen, sich über die zunehmende Eskalation von Gewalt auszulassen – übrigens nicht nur in türkischen Familien. Handgranaten zur Lösung von Konflikten gab es in diesem Kiez schon mehrfach. Kein Wunder, das man auch in türkischen Familien zu bewährten Mitteln greift.

Wenn jedoch, wie in diesem Fall, der verletzte Ehrenkodex eine Rolle spielt, so könnte man ja mal die Leute selber fragen anstatt einen Exotik-Professor. Verständnis für den in seiner Ehre verletzten Täter ist eine Sache, Verständnis für die sexuell mißbrauchte Nichte war aus dem Interview nicht zu bemerken. [...] Thomas Behrendt

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