: Wer hat Angst vorm Fruchteis-Mann?
Von wegen weltoffene Hansestadt: Wie schwer es die Bremer dem Gründer einer Eisdielen-Dynastie Anfang des Jahrhunderts machten, entdeckte die Kulturwissenschaftlerin Daniela Dethmann. Ihre Magisterarbeit zeichnet die Geschichte der italienischen Einwandererfamilie Chiamulera nach
Erstmals ergeht 1903 Anzeige gegen den ein Jahr zuvor aus Italien eingewanderten Eisverkäufer Chiamulera. Die Begründung des Schutzmanns Müller II: Der Arbeitsimmigrant habe „längere Zeit (ca. 10 Minuten)“ vor den Auswandererhallen am Bahnhof seine Ware verkauft. Dies sei aber verboten, „weil sich jedesmal, wenn dort etwas verkauft wird, Menschen ansammeln“, wie der eifrige Staatsdiener in seinem Bericht vermerkt hat.
Ein anderes Mal stört sein „mehrmaliges Klingeln“, mit dem er Käufer anzulocken versucht. Chiamulera versucht den Schutzmann milde zu stimmen, um die Strafe von drei Mark abzuwenden. Der Ordnungshüter hat Chiamuleras Aussage wortwörtlich notiert: „Ich habe erst für 2 Mark verkauft, ich muss doch davon leben.“ Aber die Beteuerungen nützen nichts, er muss die Strafe zahlen, sonst käme er für einen Tag in Haft.
Für ihn ist die Strafe von drei Reichsmark hoch: Eis kostet damals nur wenige Pfennige und Chiamulera muss viel verkaufen, um den Betrag bezahlen zu können. Doch der 25-Jährige lässt sich durch die wiederholten Zusammenstöße mit den deutschen Ordnungshütern nicht unterkriegen und verkauft weiter. Die Geschäfte laufen in den kommenden Jahren so gut, dass er 1908 seine erste Eisdiele Am Markt 11, im Herzen Bremens, eröffnen kann.
Neben der Eisdiele unterhält Giovanni acht Eiswagen, die von Angestellten – meist ebenfalls italienische Auswanderer – durch die Hansestadt gezogen werden. Auch sie nehmen es mit den deutschen Vorschriften nicht so genau. Zweimal werden sie wegen des nicht genehmigten Straßenverkaufs von Fruchteis an Sonntagen angezeigt. 1911 macht sich ein Angestellter Giovannis schuldig, weil er an einen noch nicht 10 Jahre alten Jungen Eis verkauft. Als die Schutzmänner Meier VIII und Selke den Italiener Ruggero De Marco auf die Ordnungswidrigkeit hinweisen, entgegnet ihnen dieser: „Ich dachte, der Junge wolle das Eis für seine Mutter haben.“ Hierbei handelt es sich wohl um eine Ausrede, denn laut Polizeibericht war die Mutter beim Verkauf des Eises nicht dabei, sondern kam erst später hinzu.
Bis 1914 erhält Chiamulera elf Anzeigen. Alle Strafen werden von ihm ordnungsgemäß beglichen. Im selben Jahr bricht der Erste Weltkrieg aus und zwingt die Familie Chiamulera wenige Monate später zur Rückkehr nach Italien. Die „Aufenthaltsakte der Kriminalabteilung der Polizeidirektion Bremen betreffend den italienischen Staatsangehörigen Giovanni Chiamulera“ enthält ein Schreiben vom 29. Juni 1915. Der Betreff lautet: „Fortzug eines feindlichen Ausländers“.
Nach Beendigung des Krieges kehrt Giovanni 1919 nach Bremen zurück. Zuvor hat er sich bei seiner Landesvertretung versichert, dass er kein ungebetener Gast sein würde. Die Lage im Nachkriegsbremen ist allerdings so schlecht, dass Chiamulera nicht lange in der Hansestadt bleibt und vorerst in sein norditalienisches Heimatdorf zurückkehrt. Dort ist die Lage allerdings nicht besser, seine Frau stirbt 1920 mit nur 35 Jahren. Chiamulera entschließt sich, sein Geschäft in Bremen wieder aufzunehmen. Er investiert viel Geld in die Neueinrichtung der Eisdiele Am Markt. Seine fünf Kinder hat er bei Verwandten untergebracht. Sie sollen so bald wie möglich nachkommen.
Bereits im Februar 1921 beginnt der Ärger mit der Staatsmacht von Neuem. Chiamulera wird von der Polizei vorgeladen, da seine Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist. Chiamulera gibt bei der Befragung zu Protokoll, dass er geglaubt habe, dauerhaft in Deutschland bleiben zu können. Zur selben Zeit geht bei der Polizeidirektion ein Brief von Bremer Geschäftsleuten ein. Darin fordern die Kaufleute Maßnahmen gegen Chiamulera und fügen als Erklärung hinzu: „Da dieser Italiener, gestützt auf die Macht seines ausländischen Geldes und seiner bedeutend billigeren italienischen Arbeitskräfte, alles daran setzen wird, uns als Konkurrenz zu vernichten, bitten wir demselben den Handel mit Fruchteis zu versagen.“
Anschließend weisen sie darauf hin, dass Chiamulera bereits vor dem Krieg in Bremen einen „umfangreichen Handel mit Fruchteis“ betrieben habe. Zu Beginn des Krieges sei er nach Italien zurückgekehrt, um gegen Deutschland „zu kämpfen und es zu vernichten“. Die Kaufleute werfen ihm vor, sich „in Deutschland bereichert zu haben“ und behaupten, er sei mit derselben Absicht zurückgekommen, habe aber feststellen müssen, dass direkt nach Beendigung des Krieges die Verhältnisse sehr schlecht waren. Er habe daher seinen Besitz nach Italien gebracht. Als Bremer Geschäftsleute hätten sie die schweren Nachkriegsjahre unter Mühen durchgehalten. Nun, wo es gerade wieder etwas bergauf gehe, käme Chiamulera zurück und verstärke die Wohnungs- und Ladennot. Dabei habe er noch nicht einmal einen festen Wohnsitz in Bremen. Die Verfasser sehen sich durch das valutenstarke Geld des Ausländers bedroht und bitten die Polizeidirektion um Schutz, da sie sich in ihrer Existenz bedroht fühlen.
Die Polizeidirektion prüft daraufhin Chiamuleras Unterlagen und stellt fest, dass dem Italiener der Handel mit Fruchteis nicht untersagt werden kann. Doch damit beginnt erst die Suche nach Gesetzeslücken: Verschiedene Varianten werden von den Beamten durchdacht, um Chiamulera den Verkauf seines Eises zu erschweren. Ein hoher Polizeibeamter schreibt in einer Aktennotiz ganz offen: „Man sollte sich in dieser sehr schweren Zeit aller Ausländer entledigen, wenn nicht ganz besondere Gründe ihren Aufenthalt in Bremen wünschenswert erscheinen lassen.“ Im Folgenden erklärt er, dass Chiamulera aus „volkswirtschaftlichen Gründen auszuweisen“ sei, da er „lästig fällt durch Entnahme einer Wohnung und der zum Lebensunterhalt erforderlichen Nahrungsmittel“. Der Ausweisungsbeschluss erfolgt Ende März 1921.
Doch der Eismann nimmt die Entscheidung der Bremer Polizeibehörde nicht einfach hin. Mit Hilfe eines Anwalts und des italienischen Konsulats kämpft Chiamulera für sein Bleiberecht und für das seiner Kinder, die er nach Deutschland holen möchte. Der italienische Konsul setzt in einem Brief das Auswärtige Amt in Berlin über den „Fall Chiamulera“ in Kenntnis. Das befürchtet negative Folgen für die in Italien lebenden Reichsdeutschen und kontaktiert den Bremer Senat, um Genaueres zu erfahren.
Nachdem die Behörden in Bremen untereinander ihre Argumente gegen Chiamulera zusammengetragen haben, werden diese in einem Schreiben an das Auswärtige Amt in Berlin erläutert. Schwerpunkt dieser Argumente bilden die oben genannten Anzeigen gegen Chiamulera vor dem Ersten Weltkrieg. Es gäbe keine „Gewähr für sein Wohlverhalten“. Die harmlosen Vergehen des Italieners – beispielsweise Eisverkäufe an unerlaubtem Orte – werden im Folgenden zu schwerwiegenden Verbrechen hochstilisiert. Darüber hinaus stelle er eine „unerwünschte Konkurrenz für die Bremer Geschäftswelt“ dar. Diese hätte sich bereits veranlasst gesehen, „die Polizeidirektion um Schutz anzugehen“.
Des Weiteren plane Chiamulera seine große Familie nach Bremen zu holen, was „die ohnehin schon sehr empfindliche Wohnungsnot zum Nachteil der Einheimischen vergrößert“. Abschließend wird betont, dass die Ausweisung Chiamuleras nichts mit seiner Nationalität zu tun habe. „Lediglich die Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung und das Staatswohl sind für die Anordnung einer Ausweisung massgebend.“
Das Auswärtige Amt und die italienischen Behörden lassen die Argumente nicht gelten und Giovannis Ausweisung wird immer wieder aufgeschoben. Als letztes Druckmittel bleibt den Bremer Behörden noch die Verweigerung der Familienzusammenführung. Chiamuleras Gesuche um die Erlaubnis, seine Kinder nach Bremen holen zu dürfen, werden abgelehnt. Die Halbwaisen, der jüngste ist erst sechs, der älteste fünfzehn Jahre alt, sind nur notdürftig bei italienischen Verwandten untergebracht, die aber zu wenig Geld haben, um die Kinder bei sich behalten zu können. Doch die Bremer Behörden halten an dem Argument der Wohnungsknappheit fest.
Glücklicherweise steht seine deutsche Verlobte Maria Chiamulera unerschrocken zur Seite. Sie gibt im Polizeiprotokoll an, die Kinder bei sich aufnehmen zu können. Maria wohnt in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Diese wird in Verbindung mit dem Geschäft Am Markt von den Behörden in der direkten Nachkriegszeit als ausreichender Wohnraum für eine siebenköpfige Familie angesehen. Das letzte Argument der Behörden ist damit entkräftet und im Februar 1924 heiraten Maria und Giovanni in Bremen. Die gemeinsame Tochter Ester – benannt nach Chiamuleras verstorbener Frau – wird noch im selben Jahr geboren.