■ Wer einmal Gleise sprengt, dem glaubt man nimmermehr: Gießkannen waren sein Verhängnis
Berlin (taz) – Anfang September betrat der gefährliche Atomkraftgegner Holger Müller (Name nicht geändert) das Ordnungsamt in Winsen an der Luhe. „Ich wollte bitte eine Demonstration anmelden“ – „Wogegen soll's denn sein?“ fragte der unscheinbare Beamte Tinkl. „Gegen Castor-Transporte“, erwiderte Holger Müller mit harmlosem Lächeln. „Ist gut. Sie hören von uns.“
Leise pfeifend verläßt der blonde Pädagogikstudent das Ordnungsamt von Winsen/Luhe. Die viereckig gefaßte Kleinbrille vibriert auf seiner Nase. Wieder hat seine freundlich-intellektuelle Ausstrahlung alle getäuscht. „Es hat sich also doch gelohnt, daß ich den fünfzackig ausrasierten Stern an meinem Hinterkopf wieder zuwachsen ließ“, denkt Holger Müller in gewohnt kontemplativer Art.
Doch er hat Herrn Tinkl, den unscheinbaren Beamten des Ordnungsamtes, an dessen Gesichtszüge er sich schon drei Minuten später nicht mehr erinnern kann, leider unterschätzt. Unter dem Vorwand, die Verkehrsregelung während der geplanten Demonstration absprechen zu wollen, meldet sich Herr Tinkl bei Kriminalhauptkommissar Grimm, seit der Funktionalreform der einstigen rot-grünen Landesregierung zugleich Schutz- und Kriminalpolizist – „je nach Aufgabe“. Kriminalpolizeilich ist Kriminalhauptkommissar Grimm immer dann tätig, wenn er hellhörig wird – und dafür genügt etwa das kleine – nicht nur an Simone de Beauvoir erinnernde – Wörtchen „Castor“. Der nur noch von mittelständisch orientierten Wirtschaftsgutachtern als träge diffamierte Staatsapparat kommt sofort in Gang, und für den gefährlichen Atomkraftgegner Holger Müller gibt es jetzt kein Entrinnen mehr.
Bereits nach wenigen Stunden hat Grimm ein Dossier zusammengestellt, das Tinkl zu dem harten, aber rechtsstaatlich nachvollziehbaren Schluß kommen läßt: „Nach polizeilichen Erkenntnissen handelt es sich bei dem Anmeldenden um eine Person, welche aufgrund ihres Verhaltens in der Vergangenheit bereits mehrfach in einer Weise in Erscheinung getreten ist, die eine ordnungsgemäße Durchführung der Abschlußkundgebung an dem geplanten Orte nicht erwarten läßt.“ Mit soviel Effizienz hatte Holger Müller nicht gerechnet. Bisher hatte er nachlässigerweise immer geglaubt, die niedersächsische Polizeireform einfach ignorieren zu können.
Jetzt aber will er genauer wissen, wie und wann er in Erscheinung getreten ist. „Haben sie wirklich alles über mich gespeichert?“ fragt er voll Beklemmung. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg kann seine Anspannung verstehen und gewährt ihm Akteneinsicht. „Am 10. August 1994 erfolgte eine Demonstration im Bahnhofsbereich Lüneburg. Als einer der Hauptakteure wurde dabei der Holger Müller – weitere Personalien bekannt – durch den Polizeiführer erkannt (schluck!). Müller forderte andere Demonstranten zu Aktionen gegen den Bahnkörper auf.“ Eigentlich findet der junge Mann, der hierarchische Strukturen grundsätzlich ablehnt, daß er hier etwas zu sehr in den Vordergrund gerückt wurde.
Doch dann kommt die Erinnerung wieder, und er denkt zurück an den machtvollen Augenblick im letzten August, als der Einsatzleiter der Polizei im Lüneburger Hauptbahnhof auf ihn zutrat mit den Worten: „Herr Müller, wenn sie den Gleiskörper nicht betreten, dann können Sie die Gleise jetzt sprengen.“ Und dann hatte er sein Megaphon genommen, und seine Freunde nahmen ihre Gießkannen und Wassereimer...
Aber auch Spaßguerilla ist Guerilla: Seit dieser Aktion gilt Holger Müller als gefährlicher Atomkraftgegner. Christian Rath
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