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Wer (Hoch-)Schule auf Ausbildung beschränkt, handelt kurzsichtigErschreckend simpel

betr.: „Sonst geht Deutschland unter“, taz vom 2./ 3. 12. 00

„Unser Bildungssystem hinkt gnadenlos hinterher.“ Hans-Olaf Henkel (HOH) sollte es zumindest für den Bereich Hochschule besser wissen. „An seiner Diagnose aber zweifeln weder Betroffene noch Experten.“ Doch, das tun sie. Die Qualität der akademischen Ausbildung in Deutschland wird immer wieder gerne klein geredet. Wenn man Stimmen aus dem Ausland, (z. B. dem großen Vorbild USA) zu Wort kommen lässt, dann stehen die hiesigen Unis gut da. Ein Vergleich von amerikanischem Master und deutschem Magister/Diplom zeigt das deutlich höhere Niveau des Letzteren, auch deutsche Doktorarbeiten sind anerkannt gut.

[...] „Was nichts kostet, ist nichts wert, das ist eine menschliche Erfahrung“: interessante Einstellung, aber eher eine wirtschaftliche Erfahrung. Genau dieses möchten uns aber Lobbyisten wie HOH immer wieder eintrichtern, dass alles in der Gesellschaft einen materiellen Wert hat. Bei einer solchen Einstellung ist auch die Aussage „Ich halte gerade Studiengebühren für sozial“ logisch. Der Zweck von Hochschulen sei die Ausbildung, Akademiker haben mehr Einkommen, deswegen sollten sie auch dafür zahlen, dass sie ausgebildet werden, alles andere wäre unsozial. Dreifach falsch: Ohne akademische Arbeitsplätze gibt es sehr viel weniger nicht akademische Arbeitsplätze, also spürt eine „Arbeiterfamilie“ auch finanziell etwas von der Ausbildung der Unis. Die gesellschaftliche Funktion der Hochschulen blendet HOH wieder einmal aus. Bildung, Forschung und eigenständiges Denken sind die Grundlagen der Gesellschaft und der Demokratie. Wer (Hoch-)Schule auf die Ausbildung beschränkt, handelt kurzsichtig und fördert zum Beispiel die Xenophobie der letzten Monate. Als Letztes ist gerade die Forderung nach Ausbildung von Wissenseliten ein Argument gegen Studiengebühren. Die Benachteiligung von sozial schwachen Familien bei Hochschulzugang durch Gebühren oder andere Kosten ist seit den 70ern bekannt. Wer die fähigen Menschen aus dieser Schicht an die Unis holen will, der muss Gebühren ablehnen.

KNUD JAHNKE, Grüne Hochschulgruppe/ Uni Hamburg

[...] Herr Henkel redet zwei Seiten lang über Bildung und Ausbildung, und Begriffe wie selbstgesteuertes Lernen, soziales Lernen, Wissensaufbau oder Kompetenzentwicklung, die die Grundlage moderner didaktischer und bildungsreformerischer Konzepte darstellen, tauchen überhaupt nicht auf. Stattdessen in jedem zweiten Satz die Begriffe Wettbewerb, Leistung, Gebühren und Wirtschaft. Ein Paradebeispiel für eindimensionales Denken und beschränkte Sichtweise. Das ist ja nun an sich nicht schlimm. Im Gegenteil, es zeigt sogar, dass Menschen mit möglichst vielen unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam an der Verbesserung des Bildungssystems arbeiten sollten. Nur hat Herr Henkel als Vertreter von Großunternehmen, die ja ohnehin die Politik in Deutschland stark mitbestimmen, eine sehr exponierte Stellung und stellt seine schlichten Schlussfolgerungen als das Maß der Dinge dar, und das macht mich nervös.

Da werden die für Deutschland schlechten Ergebnisse der internationalen Vergleichsstudien (TIMSS) als mahnendes Zeichen herangezogen und werden damit erklärt, dass an deutschen Schulen wegen der 68er-Generation kein Wettbewerb herrscht (!??!), wobei die wichtigen Ergebnisse dieser Studien und die Erklärungen, die Bildungsexperten dafür haben, einfach völlig ignoriert werden. Das ist wirklich skurril. Zumal Herr Henkel an anderen Stellen genau die subjektive Theorie von Lernen und Ausbildung zu vertreten scheint, die von diesen Experten kritisiert und als eigentliche Ursache der schlechten deutschen Ergebnisse gesehen wird: Wenn es nach ihm ginge, sollten deutsche Schüler/innen Faust gut kennen, Flussnamen auswendig lernen und „das schöne alte Fach Mathematik sollte mehr gelehrt werden“. Was soll das bedeuten, „gelehrt werden“? Dass die Lehrperson an der Tafel Aufgaben vorrechnet, um Fakten in die Köpfe der Schüler/innen zu bekommen? Dass Schüler/innen feste Algorithmen einstudieren, die zur einzigen „richten“ Lösung führen? Dass Schüler/innen, die gelernt haben, auf regelmäßige suggestive Lehrerfragen knappe erwünschte Antworten zu geben, gute Noten erhalten? Nun, das ist Unterricht in Deutschland heute, wie unter anderem TIMSS zeigt. Es geht in diesem Unterricht nicht um das Lernen der Schüler/innen (geschweige denn darum, das Lernen zu lernen), sondern um das Lehren von „Stoff“. Bücher werden „durchgearbeitet“, Lösungen nach richtig und falsch klassifiziert, und wer zu viel falsch macht, durch Sitzenbleiben bestraft. Wie früher eben.

Ich stimme Herrn Henkel durchaus zu, dass es ziemlich unwichtig ist, ob es ein Fach Wirtschaft gibt oder nicht. Denn wenn Unterricht in diesem Fach so abliefe, wie es an deutschen Schulen üblich ist, dann würden die Schüler/innen genau so wenig über wirtschaftliche Zusammenhänge lernen wie jetzt. [...] Der Kern und damit das, was verbessert werden muss, ist die Art und Weise, wie Unterricht und Lernen gestaltet werden. Dies zu verbessern und zu modernisieren, muss das übergreifende Ziel aller Reformen sein. Denn die bestehenden vorherrschenden Unterrichtsformen hinken Erkenntnissen pädagogischer Forschung und modernen Bildungskonzepten – die sich durchaus an den Anforderungen der globalisierten Informationsgesellschaft orientieren – um Jahrzehnte hinterher. Alles andere sollte Mittel, dieses Ziel zu erreichen, diskutiert werden. Dazu kann mehr Wettbewerb, zum Beispiel im Sinne einer Öffnung des hermetisch abgeschlossenen Systems „Schule und Lehrer/innenausbildung“ gegenüber Quereinsteiger/innen durchaus gehören. Aber, wie Herr Henkel das tut, Studiengebühren und Konkurrenzdruck als Selbstzweck und Allheilmittel zur Verbesserung der Zukunftsfähigkeit junger Menschen zu verkaufen, ist ja nun wirklich erschreckend simpel. Und scheint seine Behauptung, dass die wahren Revolutionäre in der Industrie sitzen, am eigenen Beispiel zu widerlegen. [. . .]

LORENZ HUCKE, Dortmund

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